- 81 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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in der Natur verortet glaubt und an die Möglichkeit eines reinen Ausdrucks, bleibt zuletzt unter Eliminierung aller kulturellen Elemente tatsächlich nur der Rückbezug auf etwas ureigenst Kreatürliches: die Stimme.

Und in der Tat ist die Stimme umfänglich in der Literatur für würdig befunden, um Authentizität Ausdruck zu verleihen. In der unterstellten Authentizität soll sich wiederum weniger ein in der Zeit ablaufendes Werden, als vielmehr ein zeitloser Zustand spiegeln. Die Stimme als Natur verstanden ist danach nicht von dieser Welt, sondern spielt sich im platonischen Ideenhimmel ab bzw. hat zur Referenz das Ideal. Die Stimme im Allgemeinen und der Gesang in der Musik stehen mit der Idealität im Einklang: »Das schon von der italienischen Renaissance wiederentdeckte Prinzip ›a misura d’uomo‹ (nach Maß des Menschen), das Geheimnis aller klassischen Proportionen zeitloser Schönheit, sollte uns neue alte Orientierung sein. Musikalisch steht dann der selbst singende Mensch vor uns mit seiner Stimme und ihren Möglichkeiten als Orientierung und Regulativ des technisch und ästhetisch nicht nur machbaren, sondern auch des Angemessenen und ebendrum dauerhaft Schönen« (Steinschulte 2000: 19). Eine solche Ansicht scheint nur zu plausibel, kein fremdes Gerät ist notwendig, nur die körpereigenen Stimmbänder nebst leiblichem Resonanzkörper, um die Stimme selbst zum Klingen zu bringen. Hier möchte man einen wahren Ursprung verorten. So heißt es des Weiteren bei Gradenwitz beim Vergleich des Klaviers mit anderen Instrumenten: »Der Bläser leiht seinem Instrument den Atem seines Körpers und seiner Seele, während seine Finger die technischen Gegebenheiten zu meistern haben« (Gradenwitz 1986: 25). Das drückt sich – zur Erweiterung der Fallbeispiele – auch bei André Gide und seinen »Aufzeichnungen zu Chopin« aus, wenn er schreibt: »Zu oft imitiert das Klavier Beethovens das Orchester, so wie mancher Pianist die Geige nachahmt und die Geige die Singstimme« (Gide 31993: 62). Bei der Singstimme endet der Imitationsvergleich, so als ob sich daraufhin alles verjüngt und weil der Ursprung aller Vergleiche endlich erreicht ist. Hier ist nicht mehr zu vergleichen, zu repräsentieren mit der Lokalisierung des Ursprungs aller Repräsentationen.

Instrumente haben da nur stellvertretende Funktion, wo die Stimme authentisch wirkt, so lautet die mitlaufende Botschaft, wobei am Rande nur vermerkt sein soll, dass in der Renaissance im Bereich der Musik, auf die sich Steinschulte bezieht, ja keineswegs eine Wiederentdeckung geleistet wurde, sondern wie bspw. beim Gesang in der Oper ein Gesangstil neu erschaffen, erfunden wurde: der »stil recitativo« eines Peri. »[A]ngesichts der Tatsache, daß es sich um dramatische Dichtung handelte und daß man also mit dem Gesang das Sprechen nachahmen müßte (und zweifellos hat man niemals singend gesprochen), nahm ich an, daß die alten Griechen und Römer (die nach einer verbreiteten Auffassung ihrer Tragödien auf dem Theater vollständig sangen) eine Harmonie gebraucht haben müßten, die, indem sie die Melodie des gewöhnlichen Sprechens übertraf, die Melodie des Singens so absenkte, daß sie die Form eines Mitteldings annahm« (so Peri im Jahr 1600, zitiert nach Gier 2000: 72). Annahmen, Anmutungen ersetzen das Wissen und begründen Wiederentdeckungen, um die nicht zu wissen sind. Was man aber zu wissen glaubt, ist im Übrigen aus Schriften geschöpft, aus jenen wiederum und ebenfalls zweitrangig empfundenen Repräsentationsorganen, die die Stimme nur ungenügend vertreten. Und die durch Gutenberg auf den Weg gebrachte Medienrevolution Buchdruck


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