- 23 -Schmidt, Patrick L.: Interne Repräsentation musikalischer Strukturen 
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3.  Theorien zur Bedeutung motorischer Prozesse im Stimmapparat bei musikalischen Klangvorstellungen

3.1.  Epiphänomen der Kognition

Die im Folgenden dargestellten Theorien sind insofern der traditionellen philosophischen Lehre des Dualismus (oder sogar eines Psychomonismus) verpflichtet, als sie von der prinzipiellen Unabhängigkeit oder sogar Überlegenheit des Geistes gegenüber dem Körper überzeugt sind. Diese Lehre wirkt sich bis in die Gegenwart aus und zeigt sich z. B. in der Differenzierung zwischen Geist und Gehirn. Sie findet ihren Ausdruck auch darin, dass vor allem Musiker in Umfragen versichern, Musik rein auditiv – d. h. ohne Bezugnahme auf motorische Prozesse im Stimmapparat – zu repräsentieren (z. B. Stricker 1885; Courtier 1897, Agnew 1922). Georg Elias Müller (1879) wies darauf hin, dass im Fall eines unmittelbar zuvor gehörten Klanges (»primäre Gedächtnisbilder«, S. 288) die diesbezüglichen Vorstellungen auch ohne motorische Aktivitäten vonstatten gehen könnten. Auch Carl Stumpf (1883) beteuerte kategorisch, dass er bei der Vorstellung musikalischer Klänge nur manchmal (und keinesfalls immer) Muskelempfindungen im Stimmapparat wahrnähme.

Der Dualismus schließt jedoch eine Wechselwirkung zwischen Körper und Geist nicht völlig aus. Nach klassischer Auffassung (z. B. im Rationalismus und Britischen Empirismus) ist eine motorische Transformation von Sinnesdaten für die Erkenntnis notwendig, um Informationen zu kodieren, von denen angenommen wird, sie seien nicht in den primären Sinneseindrücken enthalten. René Descartes sprach dem denkenden Bewusstsein (»res cogitans«) z. B. räumliche Attribute ab, die jedoch dem körperhaft-materiellen Sein (»res extensa«) naturgemäß anhaften (vgl. 1649/1996). Solche mit Hilfe der Motorik sekundär kodierten Informationen sollten also dem Geist dazu verhelfen, in Kontakt mit der räumlich definierten Welt der Materie treten zu können. In dieser Tradition steht z. B. auch George Berkeleys »New Theory of Vision« (1709/1963), in der die räumliche Tiefenwahrnehmung durch Augenbewegungen sowie durch taktile Eindrücke im Zusammenhang mit Handbewegungen bei der Erkundung von Objekten erklärt wird. Motorische Prozesse erfüllen somit zumindest bei der Wahrnehmung und in Lernprozessen durch assoziative Verknüpfung eine Rolle. Im Zusammenhang mit der Aktivität des menschlichen Geistes auftretende physiologische Prozesse werden dagegen als Begleiterscheinung betrachtet.1

1 Diese frühen Theorien unterscheiden noch streng zwischen dem Akt der Wahrnehmung und höheren mentalen Prozessen wie Denken, Vorstellung und Gedächtnis. In dieser Arbeit wird jedoch mindestens von einer engen Verzahnung von Wahrnehmung und Vorstellung ausgegangen. So setzt die Wahrnehmung einer Melodie voraus, dass man bereits verklungene Töne im Gedächtnis behalten kann. Ansonsten würde man keine Melodie sondern nur einzelne Töne ohne Bezug zueinander hören. Ein musikalischer Trugschluss käme nicht überraschend, wenn man nicht antizipierend voraushören könnte. Der in den hier vorgestellten Theorien enthaltene Aspekt der Repräsentation von Informationen durch motorische Prozesse bezieht sich somit nicht nur auf die Wahrnehmung sondern auch auf die Vorstellung und wird in einem späteren Kapitel diskutiert. Der Fokus dieses Kapitels liegt auf der Diskussion des Theorieansatzes, dass Vorstellungen zwar von motorischen Prozessen begleitet werden, letztere jedoch keine Bedeutung für erstere haben.


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