- 32 -Schmidt, Patrick L.: Interne Repräsentation musikalischer Strukturen 
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muskuläre Aktivitäten eher als Epiphänomen denn als Ursache geistiger Prozesse anzusehen sind. Dennoch wurden die motorischen Prozesse von ihm betrachtet als

eine Art von Resonanz, welche die Thätigkeit der Seele zur Verstärkung der Lebhaftigkeit ihrer Vorstellungen secundär in den materiellen Substraten hervorruft (Lotze 1852, S. 474).

Anna Wyczoikowska entwickelte 1913 eine Theorie der Übertragung motorischer Prozesse durch Resonanz. Gemäß dieser wirkt sich jedes ausgesprochene Wort auf das Ohr und die Zunge eines Zuhörers in ähnlicher Weise aus, wie eine vibrierende Stimmgabel eine andere in Schwingung versetzt. Ihr zufolge werden das Ohr und die Zunge des Hörers durch den Sprecher zu sympathetischen Vibrationen angeregt. Nur wenn der von der Stimme der Person A hervorgebrachte Stimulus mechanisch dieselben koordinierten Bewegungen des Sprechorgans der Person B anrege, sei diese nach Wyczoikowska in der Lage das gehörte Wort zu verstehen. Sie ging auch davon aus, dass man ein kommuniziertes Wort erst dann vollständig verstehen könne, wenn man es mit seinen eigenen Sprechorganen wiederhole. Diese intraorganischen Prozesse gehen ihrer Theorie nach dem bewussten Verstehen voraus und erklären ihrer Meinung nach auch, warum Menschen »beim Denken Wörter hören«.

Die Vorstellung, dass Schallwellen Muskeltonusänderungen oder tatsächliche Bewegungsreaktionen auslösen können, zieht sich bis in die Gegenwart. Alexander Truslit (1938) vermutete, dass das Vestibularorgan (Gleichgewichtsorgan) dabei eine vermittelnde Rolle spielt. Alvin M. Liberman und Ignatius G. Mattingly (1985) gingen davon aus, dass die vom Sprecher intendierten phonetischen Gesten beim Hörer aufgrund invarianter motorischer Gehirnprogramme zu entsprechenden Bewegungen seiner Artikulatoren führen und dadurch das Verständnis des Gehörten ermöglichen. Neil P. McAngus–Todd beschreibt einen »audio-visuo-motor mechanism«, der bei Reizung des visuellen oder auditiven Systems Muskelaktivitäten bewirke (1999; siehe auch McAngus-Todd & Frederick Cody 2000). Auch andere zeitgenössische Wissenschaftler setzen ein »Perzeptions-Aktions-System« voraus, welches visuelle oder auditive Sinnesempfindungen auf einen motorischen Effektor überträgt und damit eine basale Rolle für die Erkennung und das Lernen von Handlungen spielt. Die Vermittlerrolle wird dabei dem prämotorischen Kortex zugesprochen (Gallese et al. 1996; Decety & Grèzes 1999; Rizzolati et al. 2000; Fadiga et al. 2002; Koelsch & Fritz 2003).

Kritische Anmerkungen

Walter B. Pillsbury äußerte bereits 1911 eine sehr treffende Kritik rein motorischer Bewusstseinstheorien:

[…] to say that all functions are to be explained by movements would be meaningless if function meant nothing more than movement (Pillsbury 1911, S. 95).

Die Annahme, dass musikalische Klangvorstellungen nur durch Kehlkopfbewegungen zustande kommen könnten, mutet paradox an. Zur Verteidigung der in diesem Kapitel vorgestellten Theorien muss jedoch angemerkt werden, dass keine einzige davon kognitive Leistungen ausschließlich durch motorische Prozesse erklärt. Auch


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