- 36 -Schmidt, Patrick L.: Interne Repräsentation musikalischer Strukturen 
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scheint somit auch nach heute herrschender Auffassung die Tonhöhenvorstellung sowie die Intervallbestimmung zu erleichtern. Zusätzlich zu beachten ist das Phänomen einer offensichtlich weitgehend unbewusst ablaufenden Oktav-Transposition. So weist Hans-Christian Schaper in seinem Buch »Gehörbildung compact« (1989) darauf hin, dass »eine Frauenstimme von der Stimmgabel die wirkliche Tonhöhe abnimmt, während die Männerstimme automatisch das a der kleinen Oktave singt« (S. 17 [Hervorhebung P. S.]). Im Chor singen hohe Frauenstimmen normalerweise eine Oktave höher als die durch einen männlichen Chorleiter gemachte Tonangabe, während Männer den von einer Chorleiterin angesungenen Ton eine Oktave tiefer wiedergeben. Geht man wie Rudolph Hermann Lotze davon aus, dass motorische Prozesse eine wie auch immer geartete Rolle bei der Tonhöhenrepräsentation spielen, so könnten diese mehr oder weniger automatischen Oktavierungen den Umfang der vorstellbaren Tonhöhen bis an die Grenzen der auditiven Wahrnehmung erweitern.

Andrea Halpern versuchte 1989 in einer Studie die absoluten Grenzen der Tonhöhenvorstellung zu ermitteln. In einer ersten Phase wählten Versuchspersonen, die nicht nach ihrem musikalischen Ausbildungsstand selektiert worden waren, Anfangstöne von ihnen vertrauten Liedern, indem sie diese auf einem Keyboard suchten, nachdem sie sich das jeweilige Lied vorgestellt hatten. Um die höchste und niedrigste vorstellbare Tonhöhe zu ermitteln, spielte die Versuchsleiterin zuerst die zuvor ausgewählte favorisierte Tonhöhe und danach in Halbtonschritten sukzessiv erhöhte (oder erniedrigte) Töne auf dem Keyboard. Auf einer Ratingskala schätzten die Probanden dann die Schwierigkeit der Imagination des Liedes auf der jeweils präsentierten Tonhöhe ein. Die angegebenen Grenzen der Tonhöhenvorstellung lagen im Bereich zwischen f und f 2 (vgl. S. 580), d. h. durchaus im Bereich der Möglichkeiten des menschlichen Ambitus. Die Ergebnisse wurden leider nicht nach Geschlechtern getrennt dargestellt. Zu vermuten ist aber, dass die höchsten Tonangaben von Frauen, die tiefsten von Männern gemacht wurden, was wiederum für einen Zusammenhang zwischen Stimmumfang und Tonhöhenvorstellung spräche. Bei Halpern zeigte sich allerdings eine starke Korrelation zwischen der für ein bestimmtes Lied bevorzugten Tonhöhe und den höchsten bzw. niedrigsten Tonhöhenangaben. Bei einigen wenigen Liedern wurden signifikant höhere oder tiefere Töne gewählt als bei anderen. Es wurden hier also keine absoluten Grenzen der Tonhöhenvorstellung gefunden. Die Tonhöhenangaben müssen in Relation zu der bei der Imagination von bestimnten Melodien jeweils bevorzugten Tonhöhe gesehen werden.

Otto Abraham (1901) diskutierte im Zusammenhang mit der Fähigkeit des absoluten Gehörs eine Art motorischen Referenzmechanismus, der das Singen eines bestimmten Tones auf der Grundlage der genauen Wahrnehmung des Kehlkopfes ermöglichen könnte. Abraham sprach vom »absoluten Kehlkopfmuskel-Bewusstsein« und erläuterte diese Idee wie folgt:

Was nun das absolute Kehlkopfmuskel-Bewußtsein […] anbetrifft, so ist dessen Existenz bisher unbewiesen, aber auch schwer zu eruieren. Wohl kann man sich vorstellen, daß ein Sänger nach langandauernder Übung im stande [sic] ist, die Muskeln seines Kehlkopfes so genau einzustellen, daß ein bestimmter beabsichtigter Ton entsteht, auch ohne daß er ein absolutes


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