- 37 -Schmidt, Patrick L.: Interne Repräsentation musikalischer Strukturen 
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Tonbewußtsein besitzt. Faktisch aber habe ich keinen einzigen Sänger kennengelernt, der dazu fähig wäre, weder bei meiner verschiedentlich citierten Enquête, noch bei vielfachen anderen diesbezüglich angestellten Versuchen (Abraham 1901. S. 50 [Hervorhebung im Original]).

Es lassen sich allerdings durchaus Studien anführen, die dafür sprechen, dass bei Relativhörern bei Tonerinnerungen eine Bezugnahme zur Kehlkopfmuskulatur stattfinden könnte. In mehreren Studien zur Unterscheidung zweier akustisch präsentierter Tonhöhen wurde z. B. festgestellt, dass Versuchspersonen, die zuvor ein Training der Intonation der Töne mit der Stimme erhalten hatten, geringere Tonhöhenunterschiede wahrnehmen konnten als Untersuchungsteilnehmer, die die Unterscheidung der Tonhöhen nur über das Ohr geübt hatten (ohne diese stimmlich zu intonieren) (Gippenreiter 1958; Leont’ev 1959; Leont’ev & Ovchinnikova 1958; Ovchinnikova 1960; Wickelgren 1966). Auch Martha J. Farah und Albert F. Smith (1983) zeigten, dass das Vorstellen/Merken einer bestimmten Tonhöhe die Erkennungsempfindlichkeit für Töne gleicher Frequenz erhöhte. Die verwendeten Töne lagen im Bereich der menschlichen Singstimme. Die Studie enthielt jedoch keine Aussagen dazu, ob die Versuchspersonen während des Versuchs gesummt oder eine Art internes Surrogat dafür verwendet hatten. Unterbricht man ferner das Hören der eigenen Stimme durch Vorspielen von lautem Rauschen über Kopfhörer, so machen musikalische Amateure Fehler von mehr als 55 Cent Abweichung von der richtigen Frequenz eines zu singenden Tons, wohingegen die Tonabweichungen bei Sängern etwas geringer ausfallen (ca. 40 Cent) (Ward & Burns 1978). Professionelle Sänger lernen sicherlich während ihrer Ausbildung, ihre Kehlkopfmuskeln genauer zu kontrollieren als Laien.

Andrea Halpern (1989) wies zudem nach, dass auch musikalische Laien eine relativ stabile Repräsentation der Anfangstonhöhe von vertrauten Liedern aufrechterhalten. Ihre Versuchspersonen summten in mehreren Sitzungen und Versuchdurchgängen die Anfangstöne mehrerer bekannter Lieder. Der absolute Wert der Variabilität fiel bei allen Messwiederholungen sehr gering aus. Er betrug hier wenig mehr als einen Halbton.8

8 Diese Ergebnisse sind nicht darauf zurück zu führen, dass Halperns Probanden nur sehr beschränkte Singfähigkeiten aufwiesen. Der Vergleich der gesummten Anfangstöne der einzelnen Lieder untereinander brachte durchaus signifikante Unterschiede zu Tage.

Dementsprechend zeigte Daniel J. Levitin (1994), dass etwa die Hälfte seiner 46 Versuchspersonen (Relativhörer) ein sehr vertrautes Rock-/Popstück aus dem Gedächtnis (ohne es noch einmal zu hören) in der korrekten Tonart (± 1 Halbton) sang, summte oder pfiff. 40 % der Probanden reproduzierten in mindestens einem Durchgang die korrekte Tonhöhe. 12 % trafen die richtige Tonhöhe in beiden Durchgängen und 44 % verfehlten die Originaltonhöhe in beiden Durchgängen um maximal zwei Halbtöne. Diese von Johan Sundberg (1997) auch als »muskuläres Tongedächtnis« (S. 89) bezeichnete Tonhöhenrepräsentation scheint also häufiger vorzukommen sowie stabiler und genauer zu sein als bisher angenommen.

Vernon Lee (zitiert in Baerwald 1916, S. 307) äußerte die Vermutung, dass motorische Prozesse im Stimmapparat der Kompensation einer unzureichenden Fähigkeit der Klangvorstellung dienen könnten:


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