- 158 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Behandlung bei dem Wiener Arzt Dr. Alfred Adler unterzog, dessen Diagnose (eine) konstitutionelle Ängstlichkeit in Entscheidungen lautete. Webern berichtete Schönberg: "Ich habe mir ein hohes Ziel gesetzt, auf allen Gebieten, in meiner Carriere, im Eheleben usw. aber andererseits schrecke ich aus einer in der Kindheit bereits beginnenden Ängstlichkeit, ja Weichlichkeit, übergroßen Empfindlichkeit vor Entscheidungen zurück. Um diese hinauszuschieben, erzeuge mein Körper diese Krankheitserscheinungen (Depression, Müdigkeit, Mangel an Konzentration), um gleichsam eine Legitimation zu geben für mein Zurückweichen." 37)


Enttrieblichung von Musik, das Klammern an widerspruchslose Systeme, Rationalisierungstendenzen, intellektuelle Gegenbesetzung der Triebimpulse - das sind Elemente, in denen Stuppner die Sublimierungstendenz Weberns erblickt. Die Affektsperre und die kreativen Blockierungstendenzen werden durch die Ordentlichkeit des Komponierens, durch den Eigensinn der Form und durch die Sparsamkeit der Töne, im Genuß der Pausen und der Stille kompensiert. Gegen die Gefahr der Identitätsdiffusion klammert sich das Ich an die universale Identität des absolut Sicheren, an das Einmaleins der dodekaphonen Zahlen und Symmetrien, dargestellt in den mit der Makrostruktur korrespondierenden Tonzellen aus kleiner Sekund und Terz. 38) Es wäre unverantwortlich, musikalische Schaffensprozesse lediglich auf private Sublimierungsbedürfnisse zu reduzieren. Andererseits geben Persönlichkeitsstrukturen Impulse zu geistigen Höhenflügen. Das, was Webern in seinem nicht sehr umfangreichen oeuvre uns darbietet, ist wahrlich mehr als eine bloße Bannung von Identitätsdiffusion. Ich zog den Vergleich des Webernschen Spätwerks zu Bachs `Kunst der Fuge'. Was Bach mit den Mitteln der Tonalität und ihrer Harmonik kontrapunktisch zum Höhepunkt brachte, gelang Webern mit den Mitteln der `12 nur aufeinander bezogenen Töne'. Es ist merkwürdig, daß kompositionsgeschichtliche Kulminationspunkte (mit Palestrina vollzog sich ja auch ein solcher) stets mit höchster Vollendung polyphoner Gestaltungsweisen korrespondieren. Symmetrie und Zahlenspiel faszinieren immer wieder als Symbole existierender Gesetzmäßigkeiten. Trotz Adornoscher Negation fasziniert mich an Weberns Musik diese lückenlose Spiegelung von Idee und Gesetz. Deshalb bedeutet mir Webern mehr als eine Spezialität im Adornoschen Sinn; ich liebe den Vergleich mit dem Faustischen, mit dem Augenblick, der Einblick in die Ewigkeit gewährt.




Anmerkungen


1)     Th. W. Adorno: A. Webern, in: Klangfiguren. Gesammelte Schriften, Suhrkamp, Bd. 16, S. 110 zurück

2)     R. Schulz: Über das Verhältnis von Konstruktion und Ausdruck in den Werken A. Weberns. Fink, München, S. 119-131  zurück

3)      C. Maurer-Zenck: Der Sinn von Weberns Variationen , in: Musik-Konzepte Sonderband A. Webern II. Hrsg. von H. K. Metzger und R. Riehn, edition text und kritik, S. 343  zurück

4)      Th. W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik. Frankfurt 1958, S. 61/62  zurück

5)      F. Greissle: Weberns Eigenzeit, in: Musik-Konzepte Sonderband A. Webern II, S. 5  zurück


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