- 180 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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ist die in der "Philosophie" erhobene Forderung Adornos, doch die einzelnen Dimensionen der Musik gleichmäßig zu entwickeln. Diese Kritik bezog sich aber auf Strawinsky, der nur die rhythmische Komponente weitergetrieben, die harmonische aber zurückgelassen habe. Aus diesem Mißverständnis heraus (ich nenne die "Sonate für 2 Klaviere" von Karel Goeyvaerts, das "Kreuzspiel" Stockhausens und die "Structures" für 2 Klaviere von Boulez) erwuchsen jene Versuche, auch die Rhythmen reihenmäßig zu behandeln. Adorno aber hatte wohl nicht gemeint, man solle die Reihentechnik auch auf den Rhythmus anwenden. Hier wurde Adorno gewissermaßen nach vorne überholt. Für den Bereich der Klangfarben gilt Ähnliches. Denken Sie auch an das Wort von der "Flaschenpost", mit dem in der "Philosophie" Adorno das Schönberg-Kapitel abschloß: Das ist ja ein moralischer Impetus für einen Komponisten, der glaubt, mit der hoch durchrationalisierten seriellen Musik die geschichtliche Wahrheit auf seiner Seite zu haben, auch wenn diese Musik die Hörer kaum oder gar nicht erreicht: Die "Flaschenpost"-Vokabel verbürgte dann jedoch eine mögliche Kommunikation mit noch ungeborenen Hörern ferner Jahrzehnte.


Borio: Hier wurde auf die Situation der 50er Jahre hingewiesen, die ich in meinem Vortrag tatsächlich ein bißchen außer Acht gelassen hatte. Mir ging es vielmehr darum, den Begriff "musique informelle" in die Mitte zu stellen. Aber selbstverständlich ist "musique informelle" nur aus ihrer (auch seriellen) Vorgeschichte zu deuten.


D.: Man sollte deutlicher darlegen, inwiefern das musikalische Material, von dem Adorno dauernd spricht, historisch vermittelt sei. Musikalisches Material ist nicht krude akustische Gegebenheit. Das heißt, Dreiklänge z.B. sind nicht etwa naturgegeben, sondern ein historisches Phänomen: Sie waren also einmal an der Zeit und dann nicht mehr an der Zeit.


Borio: Am Beispiel eines komplizierteren Intervalls wird das noch deutlicher: am Tritonus. Dieser Klang hat seine immer gleichbleibende akustische Eigenschaft, ist also daher quasi "zeitlos". Aber dieser Klang geht als musikalisches Phänomen über die akustisch zu begreifende Schwingung hinaus, er ist eben mehr als ein Verhältnis von Frequenzen. Er trägt allemal die Charaktere der Geschichte mit sich, die er "erlebt" hat. Wenn man diesen Klang benutzt, zitiert man zugleich die gesamte Geschichte des Tritonus, die Geschichte dieses Klangs. Klänge und musikalische Formen sind die Vokabeln und syntaktischen Elemente einer Sprache: Sie sind zu verschiedenen Zeiten nicht identisch, sondern ihre Substanz verändert sich mit der geschichtlichen Gesamtentwicklung der Sprache


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