Auch das Gesangsstück erfüllt in gewisser Weise die Funktion, zwei unterschiedliche
Charaktere miteinander zu verbinden. Auf der einen Seite verbreitet es eine zur
filmischen Situation passende Atmosphäre und verklanglicht Kerns Stimmung, aber auf
der anderen Seite wird seine Wunschvorstellungen in Bezug auf Valentine in dieses Stück
projiziert. Das Stück selbst erinnert an Klänge aus einer anderen Welt und stellt eine
Fiktion Kerns dar, die letztlich aber durch Auguste doch erfüllt werden kann. Der »gute
Charakter« von Valentine, im Stück assoziativ gleichzusetzen mit der schönen, reinen
Gesangsstimme, hat ihn dazu gebracht, über sich selbst, seine Situation und sein
Verhalten zu reflektieren und begleitet passend Situationen auf seinem Weg aus der
Isolation. Die Musik wirkt in diesem Fall wieder gleichzeitig auf mehreren Ebenen. Zum
einen kann man bei diesem Stück, genauso wie bei der Verwendung des Tangos
aus Weiss als Hintergrundmusik, in gewisser Weise von einem »musikalischen
Zitat«123
sprechen und ihr eine denotativ semantische Funktion zuordnen. Auf der anderen
Seite erfüllt die Musik gleichzeitig eine konnotative Funktion, indem sie der
Stimmungsuntermalung124
dient. Gleichzeitig geht sie sogar noch einen Schritt weiter und ermöglicht dem Zuschauer eine
emotionale Identifizierung mit Kern. Schmidt spricht in diesem Bezug von einer »affirmativen
Funktion«.125
Ähnlich wie in Bezug auf die Dramaturgie kann man bei der Verwendung der Musik
ebenfalls von einem Netz sprechen, das über den Film und die einzelnen Handlungsstränge
gesponnen wird. Auffällig ist auch, dass das musikalische Material, die kompositorische
Grundsubstanz, schon vom ersten Einsatz an offen dargelegt wird. Bis auf ein paar kleine
Ausnahmen126
126
Vgl. z.B. Segment 42 (Kern zeigt sich selbst an); S. 236
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ist die Musik in diesem Film, wie es zu erwarten war, im Bezug auf ihre syntaktischen
Funktionen ähnlich artifiziell und kunstvoll angelegt wie in den anderen beiden Filmen.
Als Beispiel sei hier des Segment 12 (Valentine kümmert sich um den verletzten Hund)
oder das Segment 65 (Kern auf dem Weg zur Show) angeführt.
Als letztes bleibt noch die Frage zu klären, warum Preisner der Musik die Form eines
Bolero zu Grunde gelegt hat. Dieser erklingt zwar nicht immer, wird aber zumindest an
vielen unterschiedlichen Stellen eingesetzt. Er liefert dem Film, ähnlich einem
Perpetuum Mobile, die nötige Energie, die er aus sich selbst, bzw. seinem ersten
Auftreten schöpft. Dem Zuschauer fällt er wohl am deutlichsten bei der musikalischen
Begleitung der beiden Shows auf. Die Antwort auf diese Frage findet man am ehesten bei
der Betrachtung des Handlungsaufbaus. Bei diesem Film ist, wie schon im Kapitel 4.3.2
dargestellt wurde, keine stringent verlaufende Handlung wie in den Filmen
Blau und Weiss zu erkennen. Vielmehr werden hier – dem Zuschauer zunächst
unzusammenhängend erscheinende – Episoden aneinander gereiht und miteinander
verwoben. Der Kameramann Piotr Sobociski spricht in diesem Zusammenhang von
einem »repetitiven Stil«, indem ähnliche Sequenzen aneinandergekettet werden:
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