- 53 -Wollermann, Tobias: Zur Musik in der "Drei Farben"-Trilogie von Krzysztof Kieslowski 
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ihren Vater im Publikum gesehen hat, in den Nachtclub gebeten wird, sieht sie einen Bericht der Journalistin im Fernsehen, in dem Olivier bestätigt, das Konzert vollenden zu wollen und in dem sie Photos ihres Mannes mit einer anderen Frau sieht. Daraufhin beschließt sie, sich der Situation zu stellen. Diesen Teil kann man als Trauerarbeit in der »Phase des Sich-Trennens« auffassen.14
14 (Erbstein1997, S. 49)

Der 4. Teil stellt Julies Weg aus der Isolation dar. Nachdem Olivier ihre Vermutungen bezüglich Sandrine bestätigt hat und sie ein letztes Mal von einem »Einbruch« überwältigt wird, fasst sie den Entschluss, Sandrine kennenzulernen. Auf der Suche nach Sandrine sieht sie in die Gerichtsverhandlung die gerade in Weiss stattfindet.15

15 Vgl. Segment 20
Nachdem sie erfahren hat, dass Sandrine von Patrice schwanger ist, versucht sie sich im Schwimmbad selbst zu ertränken.16
16 Diese Situation wird aber nicht als »Einbruch« angesehen, da hier die Musik fehlt, die für diese charakteristisch ist.
Aber auch diesmal schafft sie es nicht, sich umzubringen. Wieder einmal besucht sie ihre Mutter, kehrt aber um, als sie sie in ihrer Isolation vor dem Fernseher sitzen sieht. Damit findet die »Phase der Suche« ihren Abschluss.

Im 5. Teil scheint Julie den Tiefpunkt ihres Lebens endgültig überwunden zu haben. Das Wissen um Sandrine und deren Beziehung zu Patrice hat in gewisser Weise das Blatt gewendet. »Are we, then, perhaps to infer that Julie was at a remove from reality, and too complacently caught up in her family life, even before the car crash? Although Kies lowski gives no proper evidence with wich we might construct any firm impression of her earlier life or character, it is, I think, a distinct possibility, given her paradoxical attempts, during the film’s timespan, to idealise and ›fix‹ her past by refusing properly to come to terms with it.«17

17 (Andrew, 1998, S. 32)

Aus diesem Grund vermacht sie ihr Haus dem Baby und bittet Sandrine darum, es Patrice zu nennen. Julie entscheidet sich endgültig für das Leben, komponiert das Konzert mit Olivier zu Ende und bekennt sich zu ihm und dem gemeinsamen Werk. Julie hat realisiert, dass ein Leben frei von jeder Bindung nicht möglich ist. Sie kann wieder eine engere Beziehung zu einem anderen Menschen eingehen, einem Menschen, der sie liebt. Damit hat sie die letzte Phase des Trauerns erreicht: zu ihrer Umwelt und zu sich selbst entwickelt sie einen neuen Bezug.

Im Epilog werden dem Zuschauer, zu dem Erklingen des Chorsatzes aus dem fertiggestellten Konzert, noch einmal die einzelnen Personen vor Augen geführt. In einem Schwenk, in dem die Kamera fast träumend von einem Bild zum nächsten driftet und die Charaktere so in einem Kontinuum von Zeit und Raum verbindet, sehen wir Olivier und Julie, die sich lieben, Antoine, der im Bett aufwacht und Julies Kreuz umfasst, Julie’s Mutter, die einschläft (oder stirbt?), als eine Krankenschwester nach dem Rechten sieht, Lucille nachdenklich im Nachtclub, Sandrine, die ein Ultraschallbild ihres ungeborenen Babys betrachtet und zum Schluß, so wie zu Beginn im Krankenhaus, Julie’s Auge in einer extrem nahen Detailaufnahme bevor wir ihr Gesicht vor einem Fenster sehen: ruhig und leicht traurig, aber am Ende ist ihr ein leichtes Lächeln von den Lippen abzulesen. Der Film erzählt die Geschichte von einer Rückkehr ins Leben.

Betrachtet man die Anzahl der einzelnen Einstellungen, so fällt auf, dass Kies lowski in seinem gut eineinhalb Stunden langen Film mit nur 483 Einstellungen auskommt, was vergleichsweise wenig18

18 Monaco schreibt in (Monaco1998, S. 129), dass sich ein normaler Spielfilm aus fünfhundert bis tausend Einstellungen zusamensetzt.
ist und den Film ruhig erscheinen lässt. Weiter auffällig ist die Kameraführung, die fast immer mit Julie verbunden ist und in ihren wenigen Schwenks, Zooms oder Fahrten sehr ruhig gehalten wird. Oft werden Personen oder Dinge aus Julies Perspektive gezeigt. Manchmal sieht man sie dabei auch von hinten im Bildvordergrund.19
19 Vgl. z.B. Einstellung 220 (Julie und Antoine im Café) oder Einstellung 259 (Julie und Olivier im Café)
Die häufiger verwendeten schwarzen Blenden sind auch eher ungewöhnlich. Sie sollen Julie’s Gefühlslage, ihre Ohnmacht gerade in den »Einbrüchen« verdeutlichen. Auffällig ist eine einzige weiße Blende:20
20 Einstellung 210
Julie döst auf einer Parkbank in der Sonne und die alte Frau versucht, ihre Flasche in den Container zu werfen. Zu dieser Blende bemerkt Erbstein: »Das Weiß scheint ihren Zustand, ihre Gefühle zu beschreiben – ein angenehmes Nichts.«21
21 (Erbstein1997, S. 50)
Ein weiteres Stilmittel, mit dem Kies lowski arbeitet, sind Spiegelungen, so z.B. die Detailaufnahme von Julies Auge, in dem sich der Doktor spiegelt22
22 Einstellung 25
, die Detailaufnahme des Löffels im Café, in dem sich ihr Gesicht spiegelt23
23 Einstellung 257
oder sogar Mehrfachspiegelungen, wenn Julie ihre Mutter besucht oder diese im Epilog noch einmal zu sehen ist.24
24 In diesen Mehrfachspiegelungen werden Julie oder ihre Mutter mehrmals in Bilderrahmen und Scheiben gespiegelt. Vgl. Segmente 47, 63 und 70

Im Zusammenhang mit der dramaturgischen Gestaltung des Films wären noch etliche Gestaltungsmittel aufzuzählen, die sich in folgende Punkte gliedern lassen:25

25 Ausführlich nachzulesen in (Erbstein1997, S. 50–66)
  • Montage
  • Kameraführung, Aufnahmen und Schnitt
  • Licht und Farbe
  • Symbole
  • Musik und Ton

Im folgenden Kapitel wird nun auf den letzten Punkt eingegangen und schließlich ausgehend von der Musik eine Verbindung zu den anderen dramaturgischen Gestaltungsmitteln bzw. der Gesamtdramaturgie hergestellt.

4.1.3 Zur Musik im Film Drei Farben: Blau

Von den drei Filmen der Trilogie kommt der Musik in Blau die weitaus bedeutendste Rolle zu. Hier wird die Musik nicht nur zum thematischen Objekt des Films,


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