- 56 -Wollermann, Tobias: Zur Musik in der "Drei Farben"-Trilogie von Krzysztof Kieslowski 
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gezeigten Noten dieses Themas entnommen. Vom reinen Höreindruck würde man eher einen 4/4-Takt mit Auftakt erwarten. Das Thema B hat insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Thema A, da es ebenfalls in Moll, fast im selben Metrum erklingt, außerdem auch, zwar auf anderer Zählzeit, die charakteristische Punktierung aufweist und gleichzeitig, durch Pausen getrennt, in eindeutige Phrasen einzuteilen ist. Auch hier haben die Phrasen zum Teil gliedernde Funktion für die einzelnen Einstellungen. Das Segment 14 beginnt mit dieser Musik: Nachdem Julie in Einstellung 89 (letzte Einstellung von Segment 13) die Steine vom blauen Leuchter abgerissen hat und diese zu Boden fallen, folgt der Schnitt. Sie steht auf der Galerie (Einstellung 90) in ihrem Wohnzimmer und sucht dort nach Noten, die sie aber nicht finden kann. Nachdem sie die Mappe zugeklappt hat, setzt die Musik ein und verdeutlicht ihre Gedanken: Die Noten liegen auf dem Flügel. Als sie die Treppe heruntergeht, erklingt der zweite Takt, unten angekommen der dritte. Schließlich, nach dem Schnitt zur neuen Einstellung, in der sie in einer Nahaufnahme beim Betrachten der Noten zu sehen ist, beginnt der vierte Takt. Während die letzten Töne erklingen, faltet sie die Noten zusammen, lässt sie auf dem Flügel liegen und geht in die Küche, da sie von dort das leise Weinen ihrer Haushälterin, welches direkt im Anschluss an die Musik zu hören ist, vernommen hat.

Obwohl die Musik in gewisser Weise auch im Bild begründet ist, kann man hier nicht von Musik im »on« sprechen. Die Musik, der nebensächlich auch eine syntaktische Funktion zukommt (Beginn eines neuen Segments), weist hier zum einen eine, nach Maas konnotativ, semantische Funktion auf. Sie beschreibt, untermalt die Stimmung, die Gefühlslage, in der sich Julie befindet, recht gut: traurig, melancholisch, suchend, zart und zugleich zerbrechlich. Auf der anderen Seite verdeutlicht die Musik dem Zuschauer, dass er es mit einer Expertin in puncto Musik zu tun hat, da Julie das Notenbild in ihrem Kopf in Klänge umzusetzen vermag. Vielleicht ist dies eine Andeutung darauf, dass Julie das Konzert an Patrices Stelle komponiert hat; zumindest hat sie eine klare Vorstellung vom Klang der aufgeschriebenen Noten.

4.1.3.2 Das Beerdigungsthema: Einbruch des Schicksals

»...as if the music itself were a (blue?) physical presence.«34

34 Vgl. (Andrew, 1998, S. 28)

Den ersten »Einbruch« erlebt Julie noch im Krankenhaus. Die unisono erklingenden Tutti-Akkorde brechen förmlich über sie herein, als sie in einem Stuhl döst und fast mystisch wirkende blaue Lichtspiegelungen ihr Gesicht treffen. Stellen die blauen Fenster am Balkon in Einstellung 73 vielleicht schon eine Vorahnung dessen, was passieren wird, dar?

In diesem Segment ist ein außergewöhnlich exaktes Zusammenspiel von Licht, Ton und Kamera festzustellen. Fast schon pathetisch inszeniert Kies lowski diese Szene. Zusammen mit den Akkorden der Musik taucht er das Bild in ein kaltes Blau (Einstellung 74b). In der folgenden Einstellung (74c), während die Oboe einsam und verlassen vom Rest des Orchesters die Takte 2 und 3 spielt, kommt zu dem Lichteffekt noch eine Kamerafahrt, die den Zuschauer auf Distanz gehen lässt.


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