- 60 -Wollermann, Tobias: Zur Musik in der "Drei Farben"-Trilogie von Krzysztof Kieslowski 
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der Handlung: Der erste »Einbruch« widerfährt Julie im ersten Teil, der in gewisser Weise als Einleitung fungiert. Die nächsten drei Male bricht die Vergangenheit im dritten Teil über sie herein, als Julie in Paris ein neues Leben, frei von allen bisherigen Bindungen, beginnen will. Die Häufigkeit des Auftretens in diesem Teil zeigt, dass Julie von der Vergangenheit doch immer wieder einholt wird. Ein Leben, so wie sie es sich vorstellt, scheint nicht möglich zu sein. Schließlich tritt das Thema ein letztes Mal im vierten Teil auf – dramaturgisch betrachtet nach dem Wendepunkt. Diesmal reagiert sie anders: sie will Sandrine kennenlernen. Zuvor noch hat sie gegenüber anderen und gegenüber sich selbst versucht, die Erinnerungen und Gefühle zu verdrängen: »Das ist nur Wasser«, antwortet sie Lucille, als diese ihre Tränen bemerkt.

Der Beerdigungsmusik kommt hier neben syntaktischen Funktionen44

44 Vgl. (Schmidt1988, S. 419), (Maas und Schudack1994, S. 36) oder (Kloppenburg1986, S. 42–43)
(z.B. Verdeutlichung eines Schnitts, eines Segment- oder Sequenzabschlusses) auch eine affirmative (die Musik erleichtert dem Zuschauer die emotionale Identifizierung45
45 Vgl. neben (Schmidt1982a, S. 172) auch (Schneider1997, S. 67). Punkt 6 aus Schneiders Katalog der wichtigsten Funktionen von Filmmusik lautet: Musik kann Emotionen abbilden oder verstärken.
mit der Protagonistin) und eine affizierende Funktion zu. Das Beerdigungsthema löst beim Zuschauer begrifflose Affekte aus, die dieser auf die Bilder projiziert. Prendergasts Feststellung »Music can be used to underline or create psychological refinements – the unspoken thoughts of a character or the unseen implications of a situation«,46
46 Vgl. (Kloppenburg1986, S. 42)
trifft ebenfalls auf die Verwendung des Themas A zu. Zudem wirkt die Musik in allen Szenen polarisierend:47
47 Vgl. (Pauli1978, S. 35)
Der eindeutige Charakter der Musik schiebt inhaltlich neutrale Bilder oder doppeldeutige Bilder in die Richtung, die ihr Charakter vorgibt. Vor allem aber fungiert das Beerdigungsthema als Ausdrucksmittel psychischer Erlebnisse. Lissa schreibt hierzu in (Lissa1965, S. 175): »Sie (die Musik; Anm. des Verfassers) kann also – zusammengefaßt – Zeichen folgender psychischer Erscheinungen sein: der Wahrnehmung der Filmgestalten, ihrer Erinnerungen, ihrer Phantasievorstellungen, Träume, Visionen und auditiven Halluzinationen, weiter ihrer Willensakte, hauptsächlich aber Gefühle, Stimmungen, Affekte.«
4.1.3.3 Patrice’s Thema: Erinnerungen an die Vergangenheit

Patrices Thema tritt in etwas erweiterter Form wieder in Segment 18 (Sequenz 8) auf. Die neue Sequenz beginnt direkt mit einer Detailaufnahme, die die von Patrice geschriebenen Noten zeigt.


PIC

Abbildung 4.4: Thema B in Segment 18











Visuelle Ebene
Auditive Ebene








Nr.

Zeit

Bild

K.

Text

G.

Musik

















110

18:16

Kamera fährt über Noten

D/NS

T.1–2









111

18:25

J. steht neben dem Flügel und betrachtet die Noten

N/NS

T.3–4









112

18:39

Kamera fährt über Noten

D/NS

T.5–6









113

18:47

J. liest Noten

G/US

T.7









114

18:55

Kamera fährt über Noten; Notenlinie leer

D/NS

T.8; Pause T.9(Zz.1–2)









115

19:03

J. liest Noten

G/US

T.9(Zz.3–5)-10









116

19:12

J. schiebt Stütze des Flügeldeckels langsam weg

D/OS

Knarren der Deckelstütze

T.11–12(Zz.1)









117

19:20

J. von hinten, Deckel kracht herunter nachdem der letzte Ton verklungen ist

N/NS

Flügel in Eigenresonanz

T.12(Zz.2)









118

19:23

J. starr, Augen zu, atmet tief ein, blaue Spiegelungen auf ihrem Gesicht

N/NS

Flügel in Eigenresonanz; Atmen










Tabelle 4.5: Filmprotokoll Segment 18

Charakteristisch ist in diesem Segment die Schnittfolge (vgl. Tabelle 4.5): obwohl Julie das erste Mal beim Notenlesen aus einer anderen Perspektive gezeigt wird, kann man hier von einem a-b-a-b-a-b Schnittmuster sprechen. Dazu passend ist die Musik (vgl. Abbildung 4.4) in den ersten drei Einstellungen zweitaktig geschnitten.


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