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- 3 - Herbert Rosendorfer, Briefe in die chinesische Vergangenheit


Obwohl schon bei den sanften ersten Tönen mein Vorurteil gegen die Musik der Großnasen

hinzuschwinden begann - oder, um es ganz ehrlich zu sagen: obwohl diese sanften ersten Töne des großen Meisters We-to-feng es mir unmöglich machten, weiter an meinem Vorurteil festzuhalten, erschien mir doch die Musik zunächst wie unvollständig, wie willkürlich durchlöchert, auch unfaßbar ungenau und natürlich verwirrend. Aber noch im Lauf dieses ersten  nach unseren Begriffen sehr kurzen Satzes, ergriff mich doch der Zauber der einen oder anderen Passage, bald schon erkannte ich die Wiederkehr einer Melodie, und als der Satz mit einer leise beginnenden, raunenden, dann wie ein gläserner Frühlingswind flirrenden Passage endete, war ich für die Musik des großen Meisters We-to-feng und damit möglicherweise überhaupt für die Musik der Großnasen gewonnen.

Es folgte dann ein Satz in durchgehend rascher Bewegung, mehrmals durch eine sehr süße, hohe Melodie unterbrochen, die nicht anders denn als Gesang eines Zaubervogels in einem Kristallwald bezeichnet werden kann. Mit diesem Zaubergesang endete der sehr kurze Satz. Dann folgte ein weiterer, etwas längerer Satz, von dem mir Herr Shi-shmi später sagte, daß da niemand von mir sofortiges Verständnis erwarten könne. Der Satz hieße:

>Heilige Danksagung eines Genesenden an die Gottheit< und sei vielleicht das Kostbarste, was je ein Meister der Musik der Großnasen geschrieben habe. Er sei so zu betrachten wie gewisse verschlüsselte Kapitel einer Heiligen Schrift, deren Sinn erst mit langer und ehrfürchtiger Betrachtung, der man wohl sein ganzes Leben widmen müsse, zu begreifen sei. Er selber, Shi-shmi, habe diesen Satz mit seinen Freunden mehrere Dutzend Mal gespielt, auch habe er ihn von anderen gespielt vielfach angehört: er glaube, sich damit dem Kern des Sinnes dieser unfaßbaren Musik einigermaßen genähert zu haben; daß er ihn ganz erfaßt habe, wage er nicht zu behaupten.  ehre mich daher sehr, daß ich beim allerersten Hören dieses speziellen Satzes schon eine ferne Ahnung vom Geheimnis der »Himmlischen Vierheit« empfunden hätte.

Der Satz ist wie die Besteigung eines Berges im Nebel: ein mühsamer Aufstieg, der im Aufbrechen der Nebel auf der Höhe gipfelt; ein edler, leiser Gesang  durch keinen Text profaniert  führt an die Empfindung vom hellen, sanften Himmel heran, und in ergriffener Kontemplation, wie leise bewegtes Laub, klingt der Satz aus.

Es folgte dann wieder ein kräftiger, die Erde berührender Satz, der  wie mir Herr Shi-shmi anhand einer Zeichnung erklärte, die er anfertigte (denn ich verstehe ja die Musik-Schrift noch nicht)  eigentlich aus zwei ineinander übergehenden Sätzen besteht, die mir wie ein Menschenleben erschienen, das durch alle Höhen und Tiefen des Geschickes und durch den Wandel der Jahreszeiten torkelt. Der Satz  und damit das ganze Stück  endete mit kräftigen, lauten Schlägen, wie das Zuschlagen von Türen, wenn der Krieger hinausstürmt aus seinem Haus zum Kampf.

Ich war wie erschlagen. Es war eine Offenbarung, wie ich sie noch nie in meinem Leben erfahren und wie ich sie am wenigsten hier in dieser Welt erwartet habe. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, und erst, als die drei Freunde des Herrn Shi-shmi wieder gegangen waren, ging ich hinüber, und ohne Zweifel bemerkte Herr Shishmi meine Ergriffenheit und freute sich darüber.


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