- 17 -Kim, Jin Hyun: Musikwissenschaft in der Postmoderne 
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Konstruktion eines überindividuellen Subjekts, das sich in der Geschichte entwickelt, um sein eigenes Dasein in der Wissenschaft herauszufinden.

Zu einer weiteren großen Erzählung rechnet Lyotard die Philosophie der Aufklärung. Mit Immanuel Kants bekannter Formulierung, dass Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit sei, war die Perspektive klar umrissen: Durch Wissen gelange die Menschheit zu Freiheit und Selbstbestimmung. Die Aufklärungsphilosophie ist eine Erzählung des Praktischwerdens menschlicher Erkenntnis im Dienst der Emanzipation des Menschen von Dogmen und Unterdrückung, wobei das Wissen in einem praktischen Subjekt bzw. in der Humanität seine Gültigkeit findet. In der Aufklärungserzählung arbeitet – so Lyotard – der Heros der Wissenschaft an einem guten ethisch-politischen Ziel, dem universellen Frieden, [. . . ]. Man sieht daran, dass die Legitimierung des Wissens durch eine Metaerzählung, die eine Geschichtsphilosophie impliziert, zur Frage über die Gültigkeit der Institutionen führt, die den sozialen Zusammenhang bestimmen: Auch sie verlangen, legitimiert zu werden. So sieht sich die Gerechtigkeit ebenso wie die Wahrheit auf die große Erzählung bezogen.19

19
Ebd., S. 14.

Zu den großen Erzählungen kann man aber auch den Kapitalismus mit seiner Verheißung von Reichtum für alle Menschen rechnen, ebenso wie den Marxismus mit seinem Versprechen der Befreiung der Menschheit von Herrschaft und ihrer Hinführung zur Autonomie. Der dialektische Materialismus nimmt dabei die Stelle des spekulativen Idealismus ein. Das Prinzip der Moderne ist jedoch bei Marx eher in der die Praxis herstellenden Subjektivität begründet als in der Reflexion eines erkennenden Subjekts.

Die großen Erzählungen bezeichnen nach Lyotard eine Art totalitären Terror, der Brüche und Widersprüche einebnen sollte, die nun aber um die Jahrhundertwende umso deutlicher aufbrachen. Lyotard legt zunächst seine Aufmerksamkeit auf die Keime der Delegitimierung, die den großen Erzählungen des 19. Jahrhunderts innewohnen. Sie sind die Denkbewegung des Nihilismus von Nietzsche bis zur Wiener Avantgarde in der Kunst und Literatur. Die nihilistische Epoche bietet eine Gelegenheit, die Moderne zu bewältigen bzw. die rationalistische Fessel, mit der die moderne Wissenschaft die kreative und ästhetische Möglichkeit der Sprachspiele verhindert hat, zu sprengen.

Niemand spricht alle diese Sprachen, sie haben keine universelle Metasprache, der Entwurf des System-Subjekts ist ein Mißerfolg, der der Emanzipation hat mit der Wissenschaft nichts zu schaffen, man ist im Positivismus dieser oder jener vereinzelten Erkenntnis verstrickt, die Gelehrten sind Wissenschaftler, die Aufgaben eingeschränkter Forschung sind parzelläre Aufgaben geworden, die keiner beherrscht. Und die spekulative oder humanistische Philosophie ihrerseits kann nur noch ihre Legitimierungsfunktion aufkündigen, was die Krise erklärt, welche sie dort durchmacht, wo sie noch vorgibt, sie zu übernehmen, oder ihre Einschränkung auf das Studium der Logiken oder der Ideengeschichte dort erklärt, wo sie realistischerweise auf diese Legitimierungsfunktion verzichtet hat. Dies ist der Pessimismus, der die Generation der Jahrhundertwende in Wien genährt hat: die Künstler Musil, Kraus, Hofmannsthal, Loos, Schönberg, Broch, aber auch die Philosophen


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