Mach und Wittgenstein.
Sie haben ohne Zweifel das Bewußtsein wie die theoretische und
künstlerische Verantwortung der Delegitimierung so weit wie möglich
ausgedehnt.20
Darüber hinaus sieht Lyotard im Aufschwung der Technik seit dem zweiten
Weltkrieg und in der Wiederentfaltung des liberalen, fortgeschrittenen Kapitalismus,
der, nach seinem Rückzug unter dem Schutz des Keynesianismus während der
Jahre 1930–1960, vorgerückt ist, die kommunistische Alternative beseitigt
und den individuellen Besitz an Gütern und Dienstleistungen aufgewertet
hat,21
eine weitere Ursache für den Niedergang der »großen Erzählungen«. Die von Lyotard
als eine große Erzählung bezeichnete Aufklärungsphilosophie Kants führt als
Geschichtszeichen den durch die Französische Revolution erregten Enthusiasmus
an.22
Lyotard, J. F., Der Widerstreit, München: Wilhelm Fink, 1987, S. 295.
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Aber in den aktuellen Geschichtszeichen des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise
Auschwitz, dessen Name ein radikales Unrecht bezeichnet, sieht Lyotard Gegenbeispiele,
die die moderne Geschichtsphilosophie widerlegen.
Die Geschichtsphilosophien, die das 19. und 20. Jahrhundert begeistert
haben, geben vor, Übergänge über die Kluft der Heterogenität oder des
Ereignisses garantieren zu können. Die Namen unserer Geschichte halten
ihrem Anspruch Gegenbeispiele entgegen.
- Alles Wirkliche ist vernünftig, alles Vernünftige ist wirklich:
»Auschwitz« widerlegt die spekulative Doktrin. Dieses – reale –
Verbrechen zumindest [...] ist nicht vernünftig.
- Alles Proletarische ist kommunistisch, alles Kommunistische ist
proletarisch: »Berlin 1953, Budapest 1956, Tschechoslowakei 1968,
Polen 1980« [...] widerlegen die historisch-materialistische Doktrin:
Die Arbeiter erheben sich gegen die Partei.
- Alles Demokratische geschieht durch und für das Volk und umgekehrt:
»Mai 1968« widerlegt die Doktrin des parlamentarischen Liberalismus.
Der soziale Alltag läßt die repräsentative Institution scheitern.
- Alles, was dem freien Spiel von Angebot
und Nachfrage entspricht, begünstigt die allgemeine Bereicherung und
umgekehrt: die »Krisen von 1911, 1929« widerlegen die Doktrin des
wirtschaftlichen Liberalismus. Und die »Krise von 1974-79« widerlegt
die post-keynesianische Umgestaltung dieser Doktrin.
Die Übergänge, die von den großartigen Synthesen dieser Doktrinen verheißen werden,
münden in blutige Sackgasse. Daher der Kummer der Zuschauer am Ende dieses
20. Jahrhundert.23
Lyotards Ansicht nach haben mithin die »großen Erzählungen«, ob spekulative
Erzählung oder Erzählung der Emanzipation, in der gegenwärtigen Gesellschaft ihre
Glaubwürdigkeit verloren.
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