Der Historismus in seinen verschiedenen Konzeptionen erweist sich als ein Produkt der Moderne:
1. Denn dieser beschäftigt sich damit, modern (d. h. rational-wissenschaftlich) historisch zu
denken.12
Diese Beschäftigung grenzt zwar den Historismus von der naturrechtlichen Aufklärung
ab, aber der Historismus ist selbst eine Form der Aufklärung – die historische
Aufklärung. 2. Der Historismus ist zwar gegen die von einer Metaphysik inspirierte
Geschichtsphilosophie entstanden, wurzelt jedoch wiederum in der modernen
Geschichtsphilosophie.
4.3. Die Wurzel des Historismus – die moderne Geschichtsphilosophie
Der Historismus bildet sich insbesondere im deutschen Sprachraum um die Wende vom
18. zum 19. Jahrhundert aus, in der sich ein fachwissenschaftliches historisches Denken
entwickelt und die eigenständige Wissenschaftsdisziplin Geschichtswissenschaft in Form
eines akademischen Betriebes institutionalisiert. Das historische Denken selbst wurde
nicht durch den Historismus entdeckt, sondern durch die Geschichtsbetrachtung der
Aufklärung, bzw. die Geschichtsphilosophie. So gehen die Anfänge des Historismus in die
späte Aufklärung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück. Ohne die Leistung der
Aufklärung, die nach Cassirer durch die langsame und stetig-fortschreitende
»Eroberung der geschichtlichen Welt« gekennzeichnet ist, ist der Historismus auch
undenkbar.13
Cassirer, E., Der Durchbruch des Historismus – Herder, in: ders., Das Erkenntnisproblem in
der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 4, Stuttgart: W. Kohlhammer, 1957,
S. 225–232, hier: S. 225.
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Was der Historismus geleistet hat, ist sein Überarbeiten der Geschichtsbetrachtung der
naturrechtlichen Aufklärung.
Die theoretische Basis der Geschichtsbetrachtung der
Aufklärung ist die Annahme »einer unveränderlichen, allgemeinen
Menschennatur«.14
Vgl. Schnädelbach, H., Geschichtsphilosophie nach Hegel, Freiburg / München: Karl Alber,
1974, S. 23.
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Daher gilt das Interesse der aufklärerischen Forschung der Geschichte der
Geschichtsphilosophie, welche die Geschichte in Anlehnung an das Unveränderliche zu
systematisieren vermag. Beispielsweise hat Giambattista Vico in seiner Schrift
»Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker« (1725)
dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal Descartes’ (cogito
ergo sum) sein eigenes historisches Erkenntnisideal (verum esse ipsum factum)
entgegengestellt.15
Vico, G., Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker,
Hamburg: Meiner, 1990 (1. deutsche Aufl. 1744).
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Übersetzt heißt dies, dass das wahr ist, mithin erkennbar ist, was man selbst gemacht
hat. Vicos neue Wissenschaft ist die Philologie, die er der Philosophie als gleichwertig
zur Seite stellt. Die Philologie umfasst die Sprachen, die Sprachwissenschaften und die
Geschichte. So wird die Geschichte erst hier in den Rang einer Wissenschaft erhoben.
Das grundlegende Axiom der Vicoschen Theorie liegt in der geschichtsphilosophischen
Position: Der Mensch macht die Geschichte.
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