Ein Modell der Idee einer gleichzeitigen »Geschichte« der Kunst und einer Geschichte
der »Kunst« sieht Dahlhaus z. B. im Formalismus, der als eine Theorie der
Kunstgeschichte am Anfang des 20. Jahrhunderts fungiert. Der Formalismus ist eine
Auffassung der Kunstgeschichte als Prozeß einer Automatisierung der ästhetischen
Wahrnehmung und einer dadurch herausgeforderten Verfremdung durch Erneuerung der
Kunstmittel.17
Der Formalismus interpretiert das ästhetische Moment, den Kunstcharakter der Werke,
nicht metaphysisch – mit Kategorien der Philosophie des Schönen –, sondern
historisch.18
Der Begriff einer Verfremdung der Wahrnehmung durch Erneuerung der Kunstmittel –
einer Verfremdung des Gewohnten und Eingeschliffenen, von der ein Zwang zu genauer
Betrachtung, und das heißt: zu einem ästhetischen Verhalten ausgeht – ist außer einer
psychologischen zweifellos eine historische Kategorie (ebd., S. 202).
|
Dadurch wird die Rekonstruktion einer internen Geschichte der Kunst als
Kunst – nicht als bloßes Dokument für sozial- oder ideengeschichtliche
Vorgänge19
– behauptet. Damit zielt der Formalismus auf die Aufhebung von metaphysischer
Ästhetik und Historie. Der Formalismus exemplifiziert demnach Dahlhaus zufolge die
»Geschichte« der Kunst, die gleichwohl eine Geschichte der »Kunst« ist.
Dahlhaus bemüht sich somit auch für die Musikgeschichtsschreibung um die
Historisierung der Forschungsmethode. Mit der »Historisierung« meint Dahlhaus
nicht nur die Aneignung der Vergangenheit, sondern auch eine distanzierende
Vergegenständlichung der Vergangenheiten. Dahlhaus vergleicht dabei den »theoretischen
Historismus« als Denkform der Musikgeschichtsschreibung mit dem »praktischen
Historismus«, der vorwiegend für die Restauration älter Musik in der Musikpraxis
konzipiert wird und seiner Ansicht nach gegen die Geschichtlichkeit gerichtet zu
sein scheint. Er fordert mithin für die Geschichtlichkeit der Musikhistorie ein
abstrakte[s] historische[s] Bewusstsein, das als »theoretischer Historismus« bezeichnet
wird.20
Vgl. Dahlhaus, C., Das abstrakte historische Bewußtsein, in: Hansen, Wilhelm (Hrsg.), Report
of the eleventh congress Copenhagen 1972, Copenhagen: 1974, S. 174–176.
|
Im Gegensatz zu dem »praktischen Historismus« der Musikpraxis steht der
»theoretische Historismus« in einer engen Beziehung zur geschichtsphilosophischen
Ästhetik21
Für das Konzept der geschichtlichen Ästhetik folgt Dahlhaus der Ästhetik Hegels, denn die
Theorie der schönen Künste als Theorie von deren Geschichtlichkeit zu entfalten, ist das
Konzept der Hegelschen Ästhetik, in der die Kunstgattungen als geschichtliche Gestalten
religiösen Bewußtseins gedeutet werden (s. Nowak, A., Musikästhetik, in: Finscher, L. (Hrsg.),
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 6, 2. neu bearbeitete Aufl. 1997, Sp. 987).
|
:
d. h. zur Geschichtsphilosophie des Schönen [. . . ], die ästhetische und geschichtliche Erfahrung
ineins setzt.22
Dahlhaus, C., Geschichtliche und ästhetische Erfahrung, in: Wiora, Walter (Hrsg.), Die
Ausbreitung des Historismus über die Musik, Regensburg: Gustav Bosse, 1969, S. 244.
|
Historie wird für Dahlhaus im »theoretischen Historismus« zu einem wesentlichen
Moment der Ästhetik:
Die geschichtliche Umwelt bildet nicht eine äußere und zufällige
Entstehungsbedingung, die im Resultat aufgehoben und ästhetisch
gleichgültig ist, sondern greift in den Gehalt ein. Die Gegenwart eines
Werkes in seiner Zeit erscheint als Wesensmoment, als »substantielle
Gegenwart«.23
|