Schneider, der den Historismus und dessen Einfluss auf die Musikgeschichtsschreibung
aus Sicht der Systematischen und Vergleichenden Musikwissenschaft diskutiert, nimmt
die Ablehnung systematischer Forschung in der Historischen Musikwissenschaft als
seinen kritischen Bezugspunkt zum Historismus.
Der Historismus in der Musikgeschichtsschreibung, der die Musikgeschichte als Stil-
und Geistesgeschichte zu konstruieren vermag, hat Schneider zufolge die Methode eines
das Einmalige und Individuelle erfassenden Verstehens, bzw. die Methode der
hermeneutischen Deutung der Motive, welche über die Erfassung des Sinnes einer
Äußerung hinausgeht. Schneider findet bei solch einer Musikgeschichtsschreibung kaum
Eingang in die Quellenforschungen, Editionsprojekte und die Vielzahl musikhistorischer
Detailuntersuchungen.37
Die Historisierung des Denkens und der Methode bezweckt – so Schneider – keineswegs bloß
angemessene Beachtung geschichtlicher Tatsachen, sie hat vielmehr programmatischen
Charakter,38
d. h. den Anti-Naturalismus. Seiner Ansicht nach vernachlässigt die Historische
Musikwissenschaft sowohl die naturwissenschaftliche Auffassung der Musik als auch die
naturwissenschaftliche Methodologie. Der methodologische Historismus wandelt sich so
zur antinaturalistischen Ideologie. Er datiert die Wandlung vom methodologischen zum
ideologischen Historismus um 1860 auf Droysens Streitschrift (1862), die gegen
den für Kausalanalyse, Statistik, Vergleichung, Verallgemeinerung und somit
für »naturwissenschaftliche« Methodik eintretenden H. Th. Buckle (History of
civilization in England, Vols. I/II, London 1859/61) die Eigenart der historischen
Wissenschaften (Verstehen) und ihren Unterschied zu den Naturwissenschaften gestellt
hat.39
Mit dem Anti-Naturalismus der Geschichtswissenschaften werden in der
geschichtlichen Forschung das analysierende Begreifen und die Rekonstruktion von
Zusammenhängen, wie sie etwa der »kausalgenetischen« Betrachtungsweise
eigneten, ausgeschlossen. Anstelle dessen bildet ein spezifischer Akt der Sinngebung
in und durch die Bewertung eines ausgewählten Materials die geschichtliche
Forschung.40
Schneider, A., Die Geschichtlichkeit der Kunst und die außereuropäische Musik, in: Zeitschrift
für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 24/1, 1979, S. 25.
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Damit setzt die historische Geschichtsauffassung ein verstehendes Subjekt
voraus. Die Verstehens-Metaphysik ist jedoch nach Schneider Erbe
der Romantik wie Methodenideal, das mit Verve gegen Erklärung im
rationalen Zugriff gerichtet ist und für Subjektivität des Vermeinens Partei
ergreift.41
Schneider, A., Analogie und Rekonstruktion, Bd. 1, Bonn: Verlag für Systematische
Musikwissenschaft, 1984, S. 40.
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Der Geschichte kommt somit eine Funktion zu, die verschiedene Bedürfnisse befriedigt:
[. . . ] Über Geschichte haben Subjekte, kollektiv und individuell, ihre Identität, und die
Historien dieser Geschichten sind deswegen als Medien der Präsentation dieser Identität
tauglich.42
Diese die Identität innerhalb einer »Wir-Gruppe« bestimmende Funktion der
Geschichte liest Schneider insbesondere in der Vokabel »Geschichtlichkeit«
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