- 184 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Rhythmus: ein internes Konstrukt

Rhythmus entsteht erst in einem aktiven Wahrnehmungsprozess, innerhalb dessen physikalische Dauern durch die menschliche Bewusstseinsfähigkeit in speicherbare Einheiten umgewandelt werden (vgl. Abschnitt 6.1.3). Ein wichtiger Bestandteil dieses Vorgangs ist das Gedächtnis. Die Erwartung strukturierter Reize setzt das Erleben vorhergehender, ähnlicher Erfahrungen voraus. Rhythmus erschließt sich eben gerade aus einer Erwartungshaltung, die entsteht, wenn beispielsweise eine regelmäßige Struktur anklingt und auch weitergeht – oder Variationen mit sich bringt, die irritieren oder auch faszinieren können. Rhythmus bewegt sich im Spannungsfeld von Vorhersagbarkeit und Unerwartetem. Ob eine Folge strukturierter Dauern als interessant, langweilig, anregend, abregend oder sonst wie beurteilt wird, bleibt dabei offen. Das Wesen von Rhythmus (als strukturierte Zeit vgl. Abschnitt 6.2) hängt für die Einzelnen von verschiedensten Faktoren ab. Einflüsse auf das zeitliche Erfassen und Erleben haben die augenblickliche Situation und Befindlichkeit, spezielle Vorerfahrungen, Enkulturation und nicht zuletzt die biologische Ausstattung. Kognitive und emotionale Aspekte fließen gleichermaßen ein. Und ein nicht zu unterschätzender Anteil auf Zeit- und Rhythmusebene unterliegt reflexhaften Abläufen, entzieht sich einer verstandesmäßigen Kontrolle.

Für den Musikunterricht bedeutet dies, dass der ›Lerngegenstand Rhythmus‹ letztlich kaum objektivierbar ist. Selbstverständlich können Rhythmen verbindlich notiert oder von elektronischen Geräten oder Instrumenten in ihren Dauern im physikalischen Sinne einwandfrei ausgeführt werden. Doch dies ist eben nur die physikalische Seite. Auf der Seite des Menschen wird aus den Dauern eine individuell getönte Erfahrung. Aus diesem Wissen allein erwächst noch keine Hilfestellung für konkrete Unterrichtsprozesse. Das Wissen um die Vielfältigkeit und Individualität in der Auffassung von Rhythmen gebietet jedoch einen gewissen Respekt im vermittelnden Umgang damit. Schnelle Wertungen wie ›falsch‹ und ›richtig‹ oder ›zu kurz‹ und ›zu lang‹ greifen im Umgang mit dem Rhythmus nicht oder nur ungenügend.

Rhythmus als ›innere Wirklichkeit‹ entzieht sich einer allgemeingültigen Versachlichung.

Gestalthaftigkeit: ästhetische und kognitive Implikationen

Dennoch hält die Wahrnehmungspsychologie Kriterien bereit, nach denen Reizmuster beurteilt werden können: Denn mit dem Begriff der ›Gestalt‹ wird genau die oben beschriebene Erfassung und Bündelung physikalischer Ereignisse durch aktive Bewusstseinsprozesse erfasst. Neben der Melodie steht der musikalische Rhythmus geradezu modellhaft für das als Gestalt bezeichnete Phänomen. In der aktiven Wahrnehmung werden aus Einzelereignissen Motive, die als bedeutsame Strukturen erlebt und gespeichert werden können. Diese Motive gestalten sich als Figuren (Rhythmen) vor einem Hintergrund (dem Metrum im Sinne eines Grundschlags). Die Forderungen nach ›Einfachheit, Geschlossenheit oder einer guten Gestalt‹ (vgl. Abschnitt 6.2) lassen viel Spielraum für die individuelle Einschätzung, für die oben beschriebene Widersetzung absoluter Objektivierbarkeit. Die Beschaffenheit


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