- 176 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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8. Das Beispiel von Glossolalie zeigt nicht nur, mit welchen ableitenden Tendenzen die kompositorische Rezeption von philosophischen Gedanken verwickelt sein kann, sondern auch bestimmte Grenzen der "Musikphilosophie der Freiheit" 37) oder des Projekts einer musica negativa. Die Negativität, die sich - zum Teil als Wirkung der Philosophie Adornos - in der Musik der 60er Jahre, in Stücken wie Heterophonie und Sur Scène von Mauricio Kagel oder Puppenspiel Nr. 2 und Etwas ruhiger im Ausdruck von Franco Donatoni niederschlug, wird zur unerträglichen Last der Komposition, wenn sie sich auf die Entfaltung des Unsinns beschränkt. Es mag auch sein, daß der Negativitätsbegriff, der sich dabei durchsetzte, nur ein Destillat des Adornoschen war; Tatsache bleibt, daß die Negativität in ein Extrem geriet und einer Gegenbewegung freien Lauf ließ: die sogenannte neue Expressivität. Diese Gegenbewegung manifestierte sich in wachsender Weise in den 70er und 80er Jahren nicht nur bei der jungen Generation, sondern auch bei älteren Komponisten und führte zur Preisgabe des Avantgarde-Konzepts. 38) Wenn das Nicht-Identische zum Absoluten erhoben wird, läuft die Musik Gefahr, in apokalyptische Eschatologie oder in Nihilismus überzugehen. Negativität wird dadurch zum Vorzimmer einer Positivität, die sich - gegen das Fortschrittsdenken Adornos - als Restauration eines Stücks Vergangenheit konstituiert.


 Anmerkungen


1) In der musikwissenschaftlichen Adorno-Kritik wuchern Beschreibungen von Fehlern, Mißverständnissen, Widersprüchen, analytischen Unstimmigkeiten und desgleichen mehr. Diese Praxis hat sich mittlerweile derart gefestigt, daß es beinahe zum Gemeinplatz geworden ist, die Aussagen Adornos anhand solcher Unstimmigkeiten zu bagatellisieren und damit die gesamte Theorie zum alten Eisen zu werfen. Diese Ausführungen reichen aber nicht weit genug und entsprechen noch nicht echter Kritik. Sie schaffen bloß einer Vulgärästhetik Raum, die mit viel primitiveren Mitteln als der kritisierte Gegenstand arbeitet und im Namen der Exaktheit musikalischer Sachverhalte schlicht ihre Feindseligkeit gegen die Ästhetik zeigt. Eine Kritik, die ihrem Gegenstand angemessen ist, erkennt dessen Grenze, fällt aber nicht hinter sein Reflexionsniveau zurück. Diese Kritik müßte bedenken, daß der Irrtum nicht immer und unbedingt ein negatives Ergebnis ist. Irrtümer sind in einer militanten Musikwissenschaft implizit, die sich nicht auf letztgültige Urteile festlegt, sondern als ständige Auseinandersetzung mit der jeweils entstandenen musikalischen Produktion sich versteht. Irrtum ist also nicht notwendigerweise mit einem Fehlschluß identisch, der zur Wirkungslosigkeit verurteilt und mit einer objektiveren Beobachtung der Tatsachen zu revidieren wäre. Irrtümer vermögen mitunter sich produktiv in der musikalischen Praxis niederzuschlagen; sie können eine Kette von Reaktionen und Deutungen erzeugen, die zur Entwicklung des musikalischen Denkens positiv beitragen. Die Betrachtung der Avantgarde-Interpretation von Adorno und die Adorno-Interpretation der Avantgarde ist dabei sehr aufschlußreich und bezeugt die Produktivität von Irrtümern. zurück


2) Th. W. Adorno, Philosophie der Neuen Musik, Frankfurt a.M. 1978, S. 9. zurück


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