- 163 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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            Gianmario Borio


Die Positionen Adornos zur musikalischen Avantgarde zwischen 1954 und 1966.


"In der Position selbst liegt die

Nötigung, permanent aus der Reihe

zu tanzen, Sand ins Getriebe zu

streuen; und es gibt keinen Gedanken,

der nicht dem Getriebe ausgesetzt wäre."

(Th. W. Adorno, 1968)


1. Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Adorno zur musikalischen Avantgarde der Nachkriegszeit ist man genötigt, von Positionen im Plural und nicht einfach von der Position zu sprechen. Das hängt mit der Vielfältigkeit von Interpretationen und Urteilen 1) zusammen, die Adorno in seinen Schriften über die Neue Musik zwischen 1954 (Verfassungsjahr des polemischen Aufsatzes Das Altern der neuen Musik) und 1966 (letzte öffentliche Äußerungen über die gegenwärtige Musik) formuliert hat. Obwohl sich die Etappen dieser Urteilstransformationen chronologisch nicht festmachen lassen, ist ein gradueller Perspektivenwandel zu beobachten, der als Index einer Modifikation der ästhetischen Theorie insgesamt gelten kann. Wie des öfteren vermerkt wurde, bilden die letzten Schriften Adornos über die Neue Musik, ja die Reflexion über die Entwicklung jener Kunst, die ihm am nächsten stand, eine der Grundlagen seiner posthum erschienenen Ästhetischen Theorie. In allen diesen Schriften folgt Adorno dem in der Philosophie der Neuen Musik formulierten Prinzip: "den Stand des Komponierens selber, der allemal über den der Musik entscheidet, in die dialektische Behandlung hineinzuziehen." 2) Über Musik zu schreiben, bedeutet also, aus der Musik heraus zu schreiben: Die theoretische Abhandlung ist der immanente Vollzug dessen, was aus dem Gegenstand hervorgeht.


Trotz der Wandlung der Positionen erkennt man bestimmte Konstanten, die die begriffliche Einheit des Denkens doch garantieren. Diese Einheit ist durch die von Adorno praktizierte "höhere Kritik" 3) gewährleistet: Das Kunstwerk wird demzufolge als Gelegenheit einer philosophischen Reflexion benutzt, die weniger auf die ästhetische Wertung als auf die geistige und gesellschaftliche Situation abzielt. Diese Konstanten sind die Kritik an der ahistorischen Auffassung des musikalischen Materials, die Reflexion auf den Subjektverlust in der Musik und die Auseinandersetzung mit der Formfrage.


2. Daß Adorno nach dem Tod Schönbergs den Kontakt mit der Avantgarde nicht vernachlässigt hatte, zeigen seine regelmäßigen Besuche der Darmstädter Ferienkurse. Er nahm acht Mal daran teil. 1950 hielt er eine Vorlesung über die Kriterien der Neuen Musik; 1951 einen Vortrag innerhalb des Zwölftonkongresses mit dem Titel Anton Webern sowie einen Vortrag auf der Arbeitstagung "Musik und Technik"; 1954 hielt Adorno eine Vorlesung in Zusammenarbeit mit


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