- 183 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (182)Nächste Seite (184) Letzte Seite (186)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



Diskussion Gieseler


D.: Ich bin skeptisch gegenüber dem, was durch die Rezeption der Gedanken Adornos in der Musikpädagogik geschehen ist. Also in den siebziger Jahren: Ablösung alter Studienordnungen, andere Richtlinien und Curricula, die Herausnahme von Singen und Musizieren aus der Schule, vor allem aber aus der Lehrerbildung, Ausbildung von Musiklehrern, die keinerlei Ahnung vom Umgang mit Musik haben; das soll es auch bei Musikdozenten geben. Das alles war ja nur möglich aufgrund der Adorno-Wirkung! Und zum anderen: Adorno wirkt auf mich im Grunde konservativ, ja sogar resignativ, wenn er Schönbergsche Einsamkeit propagiert. Wollen wir so etwas überhaupt? Ich sehe hier so eine Art Rückzug in die Romantik, in Realitätsfremdheit. Ich glaube, wir müssen Adorno überwinden.


Gieseler: Nun, Adorno selbst kann sich gegen solche Vorwürfe nicht mehr wehren. Ich bin jedoch überzeugt, daß vieles in der sogenannten Schulreform der siebziger Jahre (auch an den Hochschulen) mit neuen Curricula und Richtlinien teilweise einfach eine Überdrehung, auch ein Mißverstehen von Adornos Grundsätzen gewesen ist. Ich glaube, diese Misere darf man Adorno nicht anlasten. Die Misere ist älter: Ich bin seit 1963 an der Pädagogischen Hochschule in Köln: Von Anfang an, bevor sich Adornosche Gedanken überhaupt weiter hätten durchsetzen können, kämpften wir bis heute um eine Verbesserung des künstlerischen Unterrichts an unseren Seminaren, um bessere finanzielle Regelung für einen Unterricht, der doch gerade das professionelle Singen und Musikmachen bei den Studenten fördern sollte. Ich finde, das ist eine Vernachlässigung dieses Sektors durch den Staat, aber nicht durch Adorno.


Zum Singen und Musizieren: Adornos Satz "nirgends steht geschrieben, daß Singen not sei. Zu fragen ist, was gesungen ist, wie und in welchem Ambiente?" aus seinem Aufsatz "Kritik des Musikanten" sollte ganz gelesen werden. Adorno sagt ja hier nicht, daß kein Mensch singen solle, er wehrt sich aber gegen den blinden Aktionismus (Hauptsache, man singt, gleichgültig, was, wie und wo), gegen ein das Denken ausschließendes Machen und gegen eine Volksliedideologie heiler Welt. Um mit großer Musik umgehen zu können, propagierte Adorno sicherlich nicht, im Schulunterricht einfach Schallplatten abzuspielen (auch das wäre blindes Machen); er hätte es sicher begrüßt, wenn Schüler, ein Instrument einigermaßen beherrschend, sich an großer Musik versucht hätten, aber eben nicht nur machend, sondern auch denkend. Und was das Singen angeht: Nun, Falala-Liedchen waren nicht Adornos Traum. Er suchte große Musik, die betroffen macht: ein Choral aus der MatthäusPassion wäre dann doch durchaus große Musik.


Überdrehungen und Mißverständnisse sollte man also nicht Adorno anlasten, sondern den Konstrukteuren von Curricula und Richtlinien, sofern sie Singen und Musizieren eliminiert haben sollten.


Wenn wir aber heute meinen, daß manches in der Reform des Musikunterrichts schief gelaufen sei, dann sollten wir nicht ärmliche, ängstliche Adorno-Nachbeter sein, sondern das, was Adorno zu irgendwelchen Problemen dieses Musikunterrichts gesagt hat, als eine Hilfe zu unserem eigenen Nachdenken nehmen, da sich


Erste Seite (1) Vorherige Seite (182)Nächste Seite (184) Letzte Seite (186)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 183 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften