- 22 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Karl Marx schreibt Adorno: "Er (Wagner) gehört zu einer Generation, der erstmals in einer durch und durch vergesellschafteten Welt die Unmöglichkeit aufging, individuell zu wenden, was über den Köpfen der Menschen sich vollzieht. Versagt jedoch war ihm, die übergreifende Totalität beim Namen zu rufen. So verwandelt sie sich ihm in Mythos. Die Undurchsichtigkeit und Allmacht des sozialen Prozesses wird vom Individuum, das sie erfährt und das doch eben mit den herrschenden Mächten jenes Prozesses sich gleichsetzt, als metaphysisches Geheimnis verherrlicht". 4) Die Rückwendung zu mythischen Stoffen aber ist nach Adorno nichts anderes als ein Ausweichen, eine "Regression" des ohnmächtigen Einzelnen vor der undurchschauten "Übergewalt des hochkapitalistischen Systems" in eine realitätsfremde Bilderwelt.


Daß Wagners mythische Handlungskonzeption dem "falschen Bewußtsein" seinerzeit verfallen seien, statt es zu entlarven, versucht Adorno vor allem am "Ring des Nibelungen" zu belegen. Denn dieses Werk gilt ihm weitgehend als Parabel der gescheiterten proletarischen Revolution. 5) So sehr aber einzelne Handlungsmotive in der Nibelungenversion Wagners einen solchen Deutungsansatz auch nahelegen mögen, so schwierig ist es, diesen im Detail durchzuhalten. Dies zeigt u.a. der Versuch Adornos, das Subjekt der Revolution zu bestimmen. Zunächst böte sich das Volk der Nibelungen an: Alberich gebraucht das Rheingold, den Tarnhelm und den Zauberring der Macht, - alles zusammen durchaus deutbar als Kapital und Herrschaft -, um die Nibelungen zu unterwerfen und auszubeuten. Alberich zu dem Volk der Nibelungen: "Nibelungen all, neigt Euch nun Alberich! Überall weilt er nun, Euch zu bewachen; Ruh und Rast ist Euch zerronnen; ihm müßt Ihr schaffen, wo nicht Ihr ihn schaut; wo Ihr nicht ihn gewahrt, seid seiner gegenwärtig!". 6) Trotz Unterdrückung und Ausbeutung aber übergeht Adorno die Nibelungen, wenn vom Proletariat die Rede ist. Und dies zurecht: denn deren Leiden bleibt bei Wagner sprachlos, geht nicht in Protest über. Die Nibelungen taugen nicht für eine Deutung als Proletariat, das selbst in einer gescheiterten Revolution als agierende Klasse hätte in Erscheinung treten müssen.


Dagegen sieht Adorno in Siegfried den gescheiterten Akteur der proletarischen Revolution. Denn ihm fällt die Rolle zu, die Welt der Verträge und Gesetze zu durchbrechen. In dieser Welt sind Naturbeherrschung und Ohnmacht ausweglos miteinander verquickt: Einerseits schränken Verträge und Gesetze Chaos und blinde Gewalt ein, andererseits aber ist es gerade die Rechtsordnung, die deren Repräsentanten, den Gott Wotan, daran hindert, widerrechtlich den Ring zurückzuholen, der als Werkzeug der Herrschaft in fremden Händen allzu leicht zu einem Instrument der Willkür werden kann. Die "rettende Tat", nämlich den Raub des vom Riesen Fafner gehüteten Ringes, kann daher ohne schuldhafte Verstrickungen nur der vollbringen, der außerhalb der Welt der Gesetze und Verträge steht. Damit kommt eine dialektische Bewegung in Gang, die Wotan selbst zum Verhängnis wird, denn der unabhängige Held, den Wotan braucht, stellt sich außerhalb der Gesetze, die Wotan zu garantieren hat, und wird so zu dessen Gegenspieler: Dieser Held, nämlich Siegfried, tötet Fafner, nimmt den Ring an sich und zerschlägt schließlich auf dem Weg zu Brünnhilde den Speer des Gottes Wotan.


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