- 67 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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unterliegt, in die Beschreibung nicht eingeht. Auf solche Unterscheidungen läßt Adorno sich nicht ein; er reflektiert die Makrostruktur der Gesellschaft, nicht aber ihre Mikrostruktur. Dadurch erhält in seiner Darstellung der gesellschaftliche Zusammenhang den Anschein der Geschlossenheit, freilich negativ, als total gewordener Verblendungszusammenhang, als "vollendete Negativität" der Empirie. In dem, was Adorno anläßlich der Neunten Symphonie an Mahlers Musik rühmt, nämlich daß sie "differenziert noch in der Hölle wie Karl Kraus", (67) bleibt seine eigene geschichtsphilosophische Ästhetik hinter ihrem Gegenstand zurück: ihr Blick aufs große Ganze, dem sie sich in bestimmter Negation entgegenzusetzen sucht, macht sie - zumindest tendenziell - gleichgültig gegenüber der Empirie. Für Adornos Mahler-Interpretation bleibt das nicht ohne Folgen: wohl vermag sie zu zeigen, was neu und anders ist an der Musik Mahlers im Vergleich zu voriger und wie dies Neue kompositionstechnisch realisiert ist; die Vermittlung von Mahlers Komposistionen mit dem geschichtlich-gesellschaftlichen Prozeß aber kann sie nur im allgemeinen Umriß, äußerst selten auch im Detail verdeutlichen. Fragen danach, auf welche - neue? - historische Situation Mahlers neue Kompositionstechniken antworten, welche Gegenstände sie musikalischer Aneignung erschließen, welche Ungleichzeitigkeiten sie spiegeln, auf welche Veränderungen der Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen sie reagieren, ließen sich nur beantworten, wenn kritische Theorie sich auf mikrostrukturelle historische und soziologische Untersuchungen einerseits und andererseits auf genaueste musikalisch-technische Analyse und ästhetische Erfahrung der Werke stützen könnte. Adornos geschichtsphilosophische Ästhetik vermag diese Fragen - soweit sie sie überhaupt stellt - nur unbefriedigend zu beantworten. Darin erweist sich Adornos Methode als unterlegen gegenüber der Walter Benjamins, die sie doch überschreiten sollte. Der Versuch, "das Intentionslose durch den Begriff einzuholen", schlägt im Mahler-Buch fehl, weil gegen Adornos erklärte Absicht der Begriff sich zur Herrschaft über das Intentionslose aufzuschwingen droht, genauer: weil die geschichtsphilosophische Konstruktion dem Gegenstand, der Musik Mahlers, äußerlich bleibt. Gegen die List der negativen Vernunft hält der physiognomische Blick nicht stand.




Anmerkungen


1) Adorno: Gesammelte Schriften (im folgenden: GS) bd. 19, Ffm. 1984, S. 86f. zurück

2) GS 19, S. 274 zurück

3) GS 19, S. 103 zurück

4) GS 19, S. 104f. zurück

5) Adorno: Mahler - Eine musikalische Physiognomie (im folgenden: Mahler), Ffm. 1976 (1960), S. 216 zurück

6) GS 19, S. 171f. zurück

7) GS 19, S. 193 zurück

8) Im Text der GS heißt es, wohl versehentlich, "auseinander" statt "aneinander". zurück

9) GS 17, Ffm. 1978, S. 193 zurück

10) GS 16, Ffm. 1978, S. 12 zurück

11) GS 16, S. 19 zurück

12) Adorno: Philosophie der Neuen Musik, GS 12, Ffm. 1975, S. 39f. zurück


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