- 35 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Doris Döpke


ADORNOS MAHLER-DEUTUNG Zum Verhältnis von "musikalischer Physiognomik" und geschichtsphilosophischer Ästhetik


 I


Adornos Beschäftigung mit der Musik Gustav Mahlers reicht hinter das Jahr 1960, in dem sein Mahler-Buch erschien, weit zurück: schon in den Frankfurter Konzertkritiken aus den 20er Jahren zeigt er sich mit Mahlers Oeuvre vertraut und davon fasziniert. Die wohl früheste Erwähnung Mahlers findet sich in einem Text, der im Mai 1924 in der "Zeitschrift für Musik" publiziert wurde, also noch vor Adornos Wiener Studien bei Alban Berg. Einige Motive der späteren Mahler-Arbeit sind in den frühen Texten bereits angelegt, etwa die Feststellung von den "Brüchen des Materials" in Mahlers Sinfonik, über die hinweg eine Interpretation die "Intention" realisieren müsse, 1) oder der Hinweis auf Mahlers Bedeutung für die Musik des 20. Jahrhunderts, insbesondere für das Schaffen Alban Bergs, zu dem Adorno eine direkte Entwicklungslinie von Mahler aus sieht, wie beispielsweise in einer Bemerkung zur Wirtshausszene des "Wozzeck": "Hier ist endlich das Scherzo, um das Mahler sein Leben lang gekämpft hat, geschrieben, das Scherzo, darin das alte ausgezehrte und doch nicht zu verdrängende Apriori der Tanzform aufgegriffen, ganz transparent gemacht, ganz erfüllt wird." 2) Auch im Zusammenhang mit Bergs Kammerkonzert - dem Adorno ebenso enthusiastisch begegnet wie dem "Wozzek" - findet sich ein Hinweis auf Mahler: "... Es ist für die Art der Formbildung des heutigen Berg symbolisch, daß seine Formen sämtlich höchst ambivalent, höchst verschieden zu analysieren sind, wie nur die Mahlers." 3) Im Fortgang dieser Rezension wird deutlich, daß Adorno nicht nur im Hinblick auf die kompositorische Technik - etwa die Vieldeutigkeit der Formen oder die Prägnanz der Instrumentation - Berg als Erben Mahlers oder umgekehrt die Musik Mahlers als Antizipation von Modernität betrachtet, sondern auch und gerade im Hinblick auf ihren geschichtlichen Ort und gesellschaftlichen Gehalt. "Irre ich mich nicht, so wird dies (d.h. Bergs) Kammerkonzert einmal mit Mahlers und Schönbergs Zeugnissen dafür einstehen, daß selbst die Musik unserer Tage, der kein sichtbarer Stern mehr leuchtet, im Bewußtsein von Menschen Hoffnung bewahrt, die durch das Dunkel dringt." 4) Die Deutung, die Mahlers Oeuvre hier erfährt - "Hoffnung..., die durch das Dunkel dringt" - muß überraschen, liest man sie von der späteren Stunde aus, deren Fazit das Gegenteil besagt: "Ohne Verheißung sind seine (d.h. Mahlers) Symphonien Balladen des Unterliegens, denn `Nacht ist jetzt schon bald'." 5)


überraschend sind, von der späteren Arbeit aus gesehen, auch andere Zusammenhänge, in denen Adorno Mahler immer wieder erwähnt: so zieht er Parallelen zwischen Mahlers kompositorischer Technik und der Kurt Weills. In dessen Violinkonzert konstatiert Adorno, neben Einflüssen Busonis und Strawinskys, die Weill auf seine Weise verarbeitet habe, vor allem einen "höchst merkwürdigen, grell expressiven und schmerzlich lachenden Mahler, der alles sichere Spiel unter die Macht der Frage setzt und so bereits von der Sachlichkeit abstößt in den gefährlich surrealis-


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