- 7 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Lucia Sziborsky


Die Dimension der ästhetischen Erfahrung nach Adorno


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Zentrum aller philosophischen Äußerungen Adornos über Musik - seien sie auf Wagner, Mahler, Strawinsky, Schönberg und andere Komponisten, oder gar auf die "kulturindustriellen Produkte" der sogenannten U-Musik bezogen - ist das Kunstwerk in seiner Komplexität. Die Rezeption des Kunstwerks, oder, wie nach Adornos Anspruch genauer gesagt werden muß: die "Erkenntnis" des Kunstwerks vollzieht sich in der ästhetischen Erfahrung des Subjekts, die im Bereich der Musik zunächst als "adäquates" bzw. "strukturelles" Hören vorzustellen ist. Die Idee dieses Hörens ist in der musikpädagogischen Diskussion nicht unumstritten geblieben. Adorno entwirft sie bereits um 1940 als Kontraposition zum "regressiven" Hören (in einer damals unveröffentlicht gebliebenen Studie über die "NBC Music Appreciation Hour", die erst 1963 unter dem Titel "Die gewürdigte Musik" in Der getreue Korrepetitor erschien).1) Interessanterweise konzipiert Adorno strukturelles Hören ausdrücklich in einem pädagogischen Kontext. Wie seine Analyse und Kritik der auf "Kunsterschließung" zwar angelegten, sie in Wirklichkeit aber verstellenden Rundfunksendereihe zeigt, muß strukturelles Hören Ziel jeder "musikalischen Unterweisung" sein, damit "der geistige Aspekt von Musik, ihr Wahrheitsgehalt, das telos künstlerischer Erfahrung" 2), überhaupt dem Verstehen zugänglich gemacht werden kann. Diesem Postulat entspricht Adornos spätere Forderung nach einer differenzierten Ausbildung der menschlichen Erfahrungsfähigkeit, die er in verschiedenen Zusammenhängen als eine vorrangige erzieherische Aufgabe für unsere Zeit bezeichnet hat. 3)


Genetisch gesehen kann die "Idee des strukturellen Hörens" als Modell des späteren Begriffs der ästhetischen Erfahrung gelten, der in aller Strenge die Hinordnung auf das Kunstwerk festhält. Konstitutiv für den Vollzug beider sind eine äußerst gespannte sinnliche Wahrnehmung und eine Art "begriffslosen" Denkens 4); darin korrespondieren strukturelles Hören und ästhetische Erfahrung der Konstitution des Kunstwerks, denn "in Musik, wie in jeglicher Kunst" sind "sinnliche und kategoriale Momente" ineinander, sind "Sinnlichkeit und Denken reziprok" 5). Beide definieren sich vom Prozeßcharakter des musikalischen Kunstwerks her. Strukturelles Hören subsumiert nicht Details einem übergeordneten Schema, sondern sucht "die Entfaltung des Erklingenden in ihrer Notwendigkeit mit den Ohren (zu) denken". 6) Adäquate, "lebendige" ästhetische Erfahrung entbindet den im Werk geronnenen Prozeß seines Werdens, der nicht "auf vermeintliche Urelemente" zu reduzieren ist; vielmehr wird "unter ihrem Blick" das Kunstwerk "selbst lebendig": "Indem es spricht, wird es zu einem in sich Bewegten." 7) Und für beide gilt schließlich auch, daß das erfahrende Subjekt im Werk "virtuell erlischt", während es umgekehrt der "Objektivität " des Kunstwerks innewird. 8) Strukturelles Hören und ästhetische Erfahrung stehen in genauer Analogie zur philosophischen Reflexion und zum Prozeß der Bildung, 9) die von Adorno gefaßt werden als dialektisches Geschehen zwischen Subjekt und Objekt, das sich "durch die Sache hindurch" realisiert.


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