- 75 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Um jedoch keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen, sei sogleich auf das kritische Potential verwiesen, daß sich hier im Keim zeigt und zum Teil schon in den Formulierungen vorliegt, die späterhin so schlagend mit Strawinsky umspringen. So kann man 1925 schon Strawinskys Etikettierung als "arriviertester Komponiervirtuose" finden und auch schon den Zweifel daran, ob die Intentionen, die Strawinsky mit seiner Musik verfolgt, legitim sind. 2) Der Verdacht, daß Strawinskys Komponieren lediglich Kunstgewerbe sei, findet sich ebenfalls schon argumentativ entwickelt. Adorno schreibt 1925: "Denn die Ironie, der er die Formen unterwirft, geht nicht in ihre materiale Konstitution über. Nicht anders manifestiert sie sich als darin, daß die gewählten Formen so schmerzlich verzeichnet, die deutlichen Elemente des Aufbaues so trüb diffundiert wurden. Die Verzweiflung an den Formen begrenzt sich an der Unterhaltung des Publikums. Diese durchherrscht die Sphäre und mindert, was an material-musikalischen Leistungen glückte, ehe die Musik nur anhebt." 3) Kritische Impulse brechen auch in einigen bissigen Bemerkungen zur Aufführungspraxis durch. So charakterisiert er eine choreographisch nicht gelungene Aufführung des Sacre als ein "urgeschichtliches Turnfest". 4) über eine Aufführung des Konzertes für Klavier und Bläser mit Strawinsky als Solisten merkt er an: "Strawinskys pianistische Fähigkeit oder vielmehr: seine Fähigkeit, weitab von pianistischer übung seine Absicht ins Klavier zu hämmern, kennt man". 5) Solche beiläufige Charakterisierung verrät viel über Adornos musikalische Herkunft, über einige Beweggründe seiner Strawinsky-Kritik.


In der Philosophie der Neuen Musik treibt Adorno seine Strawinsky-Kritik so weit vor, daß für viele mitlesende Zeitgenossen die Grenze des Erträglichen überschritten ist. Die Auseinandersetzung mit Adorno läßt sich seither ohne begriffliche Anstrengung auf der Bahn der Geschmackskritik unbehelligt betreiben. Ein Beispiel: In Wolfgang Dömlings Strawinsky-Darstellung wird die Position Adornos mit einem Satz abgetan: "Adornos engstirnige, überdies von schierer Gehässigkeit triefende Strawinsky-Kritik entspringt einem recht deutschen Blickwinkel". 6) Die in der Tat nicht sehr freundlich klingenden, durch psychologische Analogiebildungen geprägten Teile der "Philosophie der Neuen Musik" sind zwar nach Adornos Aussagen nicht als Äußerungen über die Person Strawinsky mißzuverstehen, geraten aber gelegentlich doch nicht ganz unbegründet in einen solchen Verdacht. Abgesehen davon ist das Verfahren Adornos - musikalische Sachverhalte oder kompositorische Verfahren durch Analogiebildungen zu psychotischen Zuständen zu erläutern bzw. zu dechiffrieren - irreführend. Die Kritik hieran legitimiert sich aber nicht dadurch, daß man Adorno unlautere Motive unterstellt, sondern indem die Fragwürdigkeit solcher Analogiebildung aufgewiesen wird. Ein geschickter Adorno-Kritiker könnte nun seinerseits mit dem inkriminierten Vokabularium zurückschlagen und Vermutungen über Adornos musikalische Erfahrungsmöglichkeiten anstellen. Aber auch damit wäre nur ein weiterer Beitrag zu derart mißverständlichen Analogiebildungen geleistet und keineswegs eine zureichende Charakterisierung der Adornoschen Musikerfahrung.


Im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung mit der Strawinsky-Kritik Adornos hat vielmehr dessen Anspruch zu stehen, Musik philosophisch auf den Begriff gebracht zu haben. Entscheidend ist sein


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