- 76 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (75)Nächste Seite (77) Letzte Seite (186)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



Hinweis, daß die Philosophie der Neuen Musik als Exkurs zur Dialektik der Aufklärung verstanden werden muß. Damit ist zugleich der Ort bezeichnet, den dieses epochemachende Buch Adornos einnimmt.


Zentral für die "Dialektik der Aufklärung" ist die Entfaltung der These von der "Selbstzerstörung der Aufklärung", 7) des Rückfalls oder des Zurückschlagens der Aufklärung in Mythologie. Horkheimer und Adorno folgern: "Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal". 8) Die Dialektik der Aufklärung übertrifft den kritischen Anspruch traditioneller Philosophie, indem sie das Reflexivwerden der Aufklärung erneuert, die Kritik um eine Stufe weitertreibt, die partielle zur totalen Kritik entfaltet. Horkheimer und Adorno verstehen sich als Vollstrecker einer sich unabwendbar durchsetzenden Tendenz, da Aufklärung "totalitär wie nur irgend ein System" sei: "Nicht, was ihre romantischen Feinde ihr seit je vorgeworfen haben, analytische Methode, Rückgang auf Elemente, Zersetzung durch Reflexion ist ihre Unwahrheit, sondern daß für sie der Prozeß von vorherein entschieden ist." 9) Die These, daß Aufklärung totalitär sei, bezieht sich nicht nur auf die philosophische Ideologie-Kritik, die nichts ungeschoren läßt, sondern zielt auf den gesamtgesellschaftlichen Prozeß. Musik, wie alle Kunst, bildet in diesem Bezug keine Oase abseitig eigenwillger Entwicklung und Entfaltung, sondern "zeigt heute sich erschüttert durch eben jenen Prozeß der Aufklärung, an dem sie selber teilhat und mit dem ihr eigener Fortschritt zusammenfällt". 10) Der "Schatten des Fortschritts" ist auch über die Musik gekommen: "Dessen negatives Moment herrscht so sichtbar über seine gegenwärtige Phase, daß man die Kunst dagegen anruft, die doch selber unter dem gleichen Zeichen steht." 11) Verkürzt gesagt fungieren Strawinsky und Schönberg als Platzhalter der ersten Phase des Reflexivwerdens der musikalischen Aufklärung über den Schein der Naturhaftigkeit des musikalischen Materials und verkörpern - zum Teil unbewußt - als Agenten des objektiven Geistes eine janusköpfige Position im Gebiet der musikalischen Kultur.


Der nächste Schritt, die Totalisierung der Kritik, ist im Medium der Kunst nicht zu leisten, es sei denn als Aufhebung der Kunst selbst. Neue Musik treibt die Erkenntnismöglichkeiten von Kunst jedoch weit voran: "Die Neue Musik nimmt den Widerspruch, in dem sie zur Realität steht, ins eigene Bewußtsein und in die eigene Gestalt auf. In solchem Verhalten schärft sie sich zur Erkenntnis." 12)


Das traditionelle Kunstwerk ließ "in sich Erkenntnis verschwinden", so eine geniale Formulierung Adornos, und verlangt nach Identifikation als angemessener Rezeptionshaltung. Im Zerbrechen dieser Tradition, im Zerfall des traditionellen, geschlossenen Kunstwerks, in der Tendenz zum Fragment wird der kritische Gehalt der Kunst geschärft.


Die philosophische Interpretation der Musik holt diesen kritischen Gehalt ans Licht und radikalisiert ihn auf einer Metastufe, die als Totalisierung der Kritik keine positiven Möglichkeiten, keine Wende zum Positiven erhoffen läßt oder sich zu erhoffen erlaubt. An dieser Stelle nun rekurriert Adorno wieder auf Kunst:


Erste Seite (1) Vorherige Seite (75)Nächste Seite (77) Letzte Seite (186)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 76 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften