- 78 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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dieses Denkens, die in seiner allgemeinen Formulierung nicht so offenkundig sind: der Umschlag der totalen Kritik in partielle Blindheit.


Geschichtsphilosophisches Denken hat theologische Züge bewahrt oder übernommen. Nach Marquard hat die moderne Geschichtsphilosophie sogar noch Züge vorreformatorischer Theologie (Adorno spricht z.B. von den "metrischen Teufeleien" Strawinskys) 16): "Sie, die moderne Geschichtsphilosophie, sei gar keine "säkularisierte Theologie, sondern die einzige Theologie, bei der bisher die Säkularisierung mißlang." Und weiter: "In ihr regiert die singularisierende Hermeneutik..., um - die polymythische Vielfalt der vielen Geschichten verdrängend und die monomythische Einfalt der einen Geschichte verlangend - erneut in allen `Geschäften' und Handlungen und Gedanken und Texten, die eine absolute Geschichte zu entdecken und anzufeuern." 17)


Auch der dritte große Komplex Adornos über Strawinsky, sein Strawinsky-Bild in "Quasi una fantasia" ist trotz analytischer Grundierung in geschichtsphilosophisches Licht getaucht. Adorno versucht zwar dem neueren Strawinsky, dem radikalen musikalischen Denker gerecht zu werden, sieht aber keinen Grund, von dem in der "Philosophie der Neuen Musik" Gesagten etwas zurückzunehmen. 18) Im Gegenteil versucht er zu präzisieren, was dort nicht deutlich genug wurde. Dabei wird der Blick auf die Musik als Zeitkunst gelenkt, und die Kompositionskritik entpuppt sich als angewandte Metaphysik, ein verhängnisvolles Schicksal, das Adorno offensichtlich auch am Horizont aufdämmern sah, denn er versuchte es schon prophylaktisch abzuwehren: "Was an Musik ihre Transzendenz heißen kann: daß sie in jedem Augenblick geworden ist und ein Anderes als sie ist: daß sie über sich hinausweist, ist kein ihr zudiktiertes metaphysisches Gebot, sondern liegt in ihrer eigenen Beschaffenheit, gegen die sie nicht ankann." 18a) Hier ist der Springpunkt für Adornos These, daß Musik nur als werdende ihrem Wesen treu bleibt. Die Argumentation verschiebt sich also von der geschichtsphilosophischen und kulturkritischen Ebene auf die einer kompensatorischen Metaphysik.


 Regressionsverdacht und Zeitproblem


Den Zusammenhang mit der "Dialektik der Aufklärung" merkt man der "Philosophie der Neuen Musik" dadurch schon an, daß in ihr der Regressionsverdacht konstitutive Bedeutung erhält, ganz im Gegensatz zur Argumentation im späteren kompensatorischen Versuch. Der Sacre bekommt einen Aufdruck: "Virtuosenstück der Regression". 19) Oder: "Die archaische Wirkung des Sacre verdankt sich musikalischer Zensur, einem sich Verbieten aller nicht mit dem Stilisierungsprinzip vereinbarten Impulse. Aber die artistisch erzeugte Regression führt dann zur Regression des Komponierens selber, zur Verelendung der Verfahrungsweisen, zum Verderb der Technik." 20)


Strawinskys Kompositionstechnik sei psychologischen Zuständen abgelernt: "Die Werke zwischen dem Sacre und dem neoklassischen Einlenken imitieren den Gestus der Regression, wie er der Zersetzung der individuellen Identität zugehört und erwarten davon das kollektiv Authentische." 21) Sie bereiten deshalb "den


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