- 79 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Umschlag zur Instaurierung der regressiven Gemeinschaft als eines Positiven vor". 22) Der Regressionsverdacht bildet über die bisher vorgeführten Verdachtsmomente hinaus die Klammer, die Strawinskys Kompositionsverfahren mit dem Bewußtsein seiner Hörer verbindet, denn "die ästhetischen Nerven zittern danach, in die Steinzeit zu regredieren". 23) Die anthropologische Verfaßtheit der Zeitgenossen ist bestimmt durch Verlust an Erfahrung und Rückfall auf frühere Bewußtseinsstufen. In Verfolgung dieses Gedankens behauptet Adorno dann auch, daß die Wirkung der Musik Strawinskys "kaum spezifisch musikalisch, nur anthropologisch zu erklären sei". 24)


Strawinskys Kompositionsverfahren sind zwar, wie wir gesehen haben, ebenfalls dem Regressionsverdacht ausgesetzt, werden von Adorno jedoch an vielen Stellen hiervon abgehoben und als in eiserner Disziplin brillant gehandhabte Manipulationen unter ästhetischer Selbstkontrolle beschrieben. Adornos Angst vor Regressionen ist zweifellos der stärkste Antrieb seiner Strawinsky-Kritik, und diese Angst ist aufgrund der persönlichen Erfahrungen Adornos verständlich und heute noch nachzuvollziehen. Die Kritk ist aber eher den Produkten der Kulturindustrie angemessen und der von ihnen erzeugten anthropologischen Rückbildung. Hier trifft der Satz aus der Dialektik der Aufklärung: "Der Fortschritt der Verdummung darf hinter dem gleichzeitigen Fortschritt der Intelligenz nicht zurückbleiben". 25)


Peter Bürger sieht in diesem Punkt Adorno grundsätzlich im Irrtum. In seinem Aufsatz "Das Altern der Moderne" beschreibt er die Regressionssehnsucht als "ein eminent modernes Phänomen, Reaktion auf den fortschreitenden Rationalisierungsprozeß". 26) Es dürfte heute kein Regressionstabu mehr geben, seit "die Ausdrucksstärke der Malerei von Kindern und Geisteskranken" erkannt sei. Er votiert gegen die rückbesinnende Orientierung am Kunstwerk, für eine neue "Unmittelbarkeit des Ausdrucks". Angesichts der weitreichenden philosophischen Bemühungen Adornos um die Vermittlung des Unmittelbaren scheint mir diese Kritik denn doch zu wenig vermittelt zu sein. Regression nur als Reaktion auf Rationalisierungsdruck zu erklären, ist nach der Dialektik der Aufklärung nicht mehr möglich.


Handhabbar wird der Regressionsvorwurf gegen Strawinsky aber auch nur dadurch, daß Adorno ihn mit einigen axiomatischen Aussagen über die musikalische Zeit verbindet - und diese Verbindung ist eine willkürliche Konstruktion Adornos; hier ist die Kritik anzusetzen. Um dies zu erläutern, muß noch einmal ein Gedankengang aus der "Philosophie der Neuen Musik" angeführt werden: Adorno geht in diesem Punkt vom Begriff der dynamischen musikalischen Form aus, der die motivisch-thematische Arbeit, die Arbeit mit geprägten, festgehaltenen Elementen impliziert: "Musik kennt nur um so viel Entwicklung, wie sie ein Festes, Geronnenes kennt; die Strawinskysche Regression, die dahinter zurückgreifen möchte, ersetzt eben darum den Fortgang durch die Wiederholung. Das führt philosophisch auf den Kern der Musik." 27)


Strawinskys Musik ist für Adorno Verrat an der musikalischen Zeit. Strawinsky verfalle der "bloßen Zeit". Musik sei als Zeitkunst dynamisch ans Werden gebunden, bloßer Wechsel sei keine Entwicklung. 28)


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