- 80 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Das Verdikt über Strawinsky in den Klangfiguren lautet dann auch in komprimierter Form: "Seine als rhythmisch gepriesene Musik ist das Gegenteil von rhythmisch: sie greift nicht in die Zeit ein, versucht nicht, sie zu formen, indem sie von ihr sich formen läßt, sondern ignoriert sie. Der Schein zeitloser Proportionen installiert sich an Stelle des Scheinlosen an Musik, ihrer zeitlichen Dialektik." 29)


Adornos Diktum über die Zeit in der Musik geht seinem geschichtsphilosophischen Denken parallel. Wie es vermeintlich nur eine Geschichte gibt, so gebe es auch nur eine Art der Zeitgestaltung und Zeiterfahrung in der Musik.


Daß diese Auffassung unhistorisch ist und ein fragwürdiges Ergebnis einer singularisierenden Hermeneutik darstellt, hat in Bezug auf die Spezifik der Zeitgestaltung Strawinskys Brunhilde Sonntag schon erläutert. 30)


Adorno hat seine Metaphysik der musikalischen Zeit im Strawinsky-Aufsatz in "Quasi una fantasia" weiter ausgeführt und dort eine Axiomatik entwickelt, die den Hintergrund jenes bekannten Satzes abgibt, daß Strawinsky Musik über Musik geschrieben habe. Der Kontext dieses Satzes wird jedoch meist nicht zitiert, er gibt jedoch die Begründung erst an: "Er schreibt permanent Musik über Musik, weil er Musik gegen Musik schrieb." Strawinskys Kompositionen erscheinen ihm wie zeitlose Produkte der Zeitkunst, ein von Adorno nicht zugelassener Widerspruch. Adorno reflektiert in allen diesen Thesen zur Zeit in der Musik überhaupt nicht die Beziehungen zwischen der funktionalen Harmonik der Musik der letzten Jahrhunderte, einschließlich ihrer dialektischen Weiterentwicklung im Werk Schönbergs und seiner Schüler, und einer spezifischen Zeiterfahrung, die mit Begriffen wie Werden, Entwicklung, Zwang zum Fortgang etc. gekennzeichnet werden kann. 31)


Der Hinweis darauf, daß Adorno in dieser Tendenz zu entwicklungsfreien Strukturen eine Pseudomorphose der Musik an die Malerei sah, muß hier genügen und soll die Erörterung in diesem Punkt abschließen.


Einblicke


Im Strawinskybild der Gegenwart gehen viele Einzelheiten auf Adornos Einsichten, Hinweise, analytische Befunde und ästhetische Erfahrungen zurück. Oftmals sind sie gegenüber ihrer Quelle lediglich ins Positive gewendet.


Daß Strawinskys Musik nicht nur Begleitung zum Tanz, sondern selbst der Anlaß von tänzerischer Bewegung ist, geht auf eine Erfahrung zurück, die schon Adorno beschrieb. Strawinsky, den er als "Stabskomponist des russischen Balletts" verunglimpfte, schätzte er trotzdem als genialen Erneuerer der Ballettmusik. Adorno erkannte auch, daß das gesamte Oeuvre Strawinskys vom "Prinzip Ballett" beherrscht werde.


Als eine äußerst sensible ästhetische Erfahrung muß man Adornos Hinweis werten, daß die tänzerische Bewegung von Strawinsky


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