- 94 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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der Sekunde "e 1"-"d 1" reihentechnisch "streng" genommen "überzählig" ist, hat sich Schönberg für die Druckfassung dafür entschieden, im Baß die korrekte Folge "Fis"-"F" wiederherzustellen und auf das zweite Sekundmotiv zu verzichten (die Mittelstimme lautet nun ab dem 2. Achtel durchgehend: "d 1"); der dadurch entstehende Quartsextakkord wird durch ein ab dem 4. Achtel bis zum Taktende gespieltes "e" der Bratsche neutralisiert. Dieses "e" ist im Unterschied zum "e 1" der Skizze, das zur Not mittels eines erweiterten Triller- bzw. Tremolobegriffes reihentechnisch "eingeordnet" werden kann, tatsächlich überzählig. Wenn nun - so lautet das Argument - Schönberg in unmittelbarer Nähe der fraglichen Takte 636/637 durch Abweichungen von der Reihentechnik und umständliche Änderungen harmonische Korrekturen anbringt, so ist es auch wahrscheinlich, daß er in den zwei fraglichen Takten eine ihm ungenügend erscheinende Vertikale bzw. Fortschreitung korrigiert hätte.


Der Bezug auf die vorangehenden Takte ist auch unabhängig von der zwölftontechnischen Analyse und dem Skizzenbefund von Interesse. Rekurriert man auf die Formteile und ihre Funktion, so ist aus dieser Betrachtungsweise ein Argument dafür ableitbar, daß eine harmonisch "schwache" Fortschreitung in der Absicht des Komponisten gelegen hat: Die Takte 630 - 632 bilden einen dreiphasigen Vordersatz mit deutlich ausgeprägter Hauptstimme, der in Takt 633 - 635 in einem analog gebauten Nachsatz seine Ergänzung findet. Dieses Thema wird ab Takt 638 im Baß fortgeführt. Die Hauptstimme der beiden dazwischenliegenden Takte 636/637 ist zwar als eine Art thematischer Diminution und Verkürzung des Themas ableitbar (die Phrase in Takt 636 ist vor allem - übrigens auch reihentechnisch - auf 3. Viertel Takt 633 bis 1. Viertel Takt 634 thematisch beziehbar; die Hauptstimme von Takt 637 unmittelbar als Umkehrung auf Takt 636), jedoch verglichen mit den umgebenden Teilen untergeordnet, abgeleitet (dies auch hinsichtlich seiner melodischen Prägnanz). Wenn nun aber die Takte 636/637 innerhalb der Hierarchie der Formteile quasi eine vermittelnde, überleitende Rolle spielten, so könnte dies auch in der Harmonik seine Entsprechung gefunden haben, d.h. das von Adorno empfundene Steckenbleiben kann wiederum als sinnvoll und vom Komponisten intendiert gedeutet werden.


Und noch ein letztes unmittelbar zur Harmonik. Neben der Liegestimme dürften die "Quintparallelen" des Basses in Takt 636 auf 637 ein weiterer Grund sein, weshalb die Stelle Adorno harmonisch unzufrieden läßt. So heißt es etwa an späterer Stelle im Harmonik-Abschnitt der "Philosophie der Neuen Musik": "Während die schärfste Dissonanz, die kleine Sekunde, die in freier Atonalität mit höchstem Bedacht gebraucht wurde, nun hantiert wird, als bedeute sie gar nichts, (...) drängen andererseits quartige und quintige Leerklänge, denen die Not des bloßen Zustandekommens auf der Stirn geschrieben steht, sich mehr und mehr in den Vordergrund: spannungslose, stumpfe Akkorde, gar nicht so verschieden von denen, die der Neoklassizismus zumal Hindemiths liebt." 37) Diese Quinten nun sind im langsamen Satz des Quartetts, etwa in den Takten 645 bis 649, so bewußt als kompositorisches Gestaltungsmittel eingesetzt, daß sie als zufällig bzw. als zwölftontechnischer Betriebsunfall zustandegekommen, nur schwer erklärbar sind.


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