- 95 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Faßt man die bisherigen Überlegungen zusammen, so läßt sich konstatieren, daß die Differenz zwischen dem, was Adorno als harmonisches Ideal vorschwebt, und dem, was er bei Schönberg vorfindet und als mangelhaft kritisiert, und zwar durch die Zwölftontechnik bedingt mangelhaft, zu begreifen ist als der Unterschied der persönlichen musiksprachlichen Entwicklung und den damit korrespondierenden harmonischen Idealen von Adorno und Schönberg: Liefen diese in der historischen Phase der Emanzipation von der Tonalität parallel, so konnte Adorno jene Entwicklung Schönbergs, die sich als Zurücknahme der expressionistischen Phase deuten läßt, nicht mitvollziehen. Schönbergs - möglicherweise auch durch Alterskonzilianz bedingte - Toleranz tonalen Einschlägen gegenüber, seine "Rückkehr zur ersten Liebe" 38) - der Tonalität -, mußte von Adorno, der eine solche Rückbildung mit dem, was er als objektiven Stand des musikalischen Materials begriff, nicht vereinbaren konnte, im Rahmen seiner geschichtsphilosophischen Konstruktionen interpretiert werden. Da einerseits Schönbergs - grob gesagt - Rückbildungen, seine Rückkehr zu - auch thematisch - wieder traditionelleren Bildungen nicht so drastisch waren, wie etwa jene bis zur Selbstverleugnung der Jugendwerke gehende bei Hindemith, andererseits Schönbergs schöpferische Potenz völlig außer Frage stand, konnte es nicht zu einem dem Fall Adorno-Hindemith 39*) vergleichbaren Bruch kommen, der die geschichtsphilosophische Konstruktion dadurch rettet, daß ein Autor in die Kategorie der für objektiven Geist nicht mehr relevanten Personen eingeordnet wird. Adorno, der den objektiven Stand des Komponierens (auch noch lange nach dem Erscheinen der "Philosophie der Neuen Musik" 40)) in den Problemen der freiatonalen Phase und nicht denen der zwölftontechnisch gebundenen verkörpert sieht, löst die Widersprüche im Materialstand des Schönbergs der späten 40er Jahre durch die spezifische Konstruktion seiner Geschichtsphilosophie als solche in der Sache auf 41). Dies war um so naheliegender, als in der Zeit der Niederschrift des Schönberg-Kapitels gemeinsam mit Horkheimer jene Kritische Theorie entwickelt wurde, die in der "Dialektik der Aufklärung" ihren Niederschlag fand und diese Theorie mit der Kategorie der Verdinglichung als einer die gesellschaftliche Totalität umfassende Erscheinung das begriffliche Raster bereitstellte. (Ausdrücklich soll die Philosophie der Neuen Musik als "ausgeführter Exkurs zur "Dialektik der Aufklärung" verstanden werden. 42))


Alle bisherigen Ausführungen über Takt 636/637 des Schönbergschen Streichquartetts, die dazu dienen sollten, die Behauptung Adornos, es handle sich bei diesen Takten um ein handgreifliches Beispiel für die Verdinglichung, die die Zwölftontechnik in der harmonischen Dimension bewirkt, zu relativieren, operierten auf der Ebene, daß es eher wahrscheinlich sei, daß Schönberg zwischen seiner kompositorischen Intention und dem tatsächlich Komponierten keine solche Diskrepanz empfand oder hätte empfinden müssen, wie Adorno ihm, bedingt durch seine theoretischen Vorstellungen, implizit unterstellt. Will man nun die Kritik an Adornos Aussagen zur Zwölftontechnik auf einer etwas höheren Ebene fortsetzen, so wäre der Zusammenhang zwischen der (vermeintlichen) Erscheinung und ihrer Begründung näher zu betrachten. Gesetzt, Schönberg hätte diese Takte als mangelhaft empfunden, sie aber aus irgendwelchen zunächst nicht näher bestimmbaren Gründen in der Komposition unverändert belassen, so wäre immer noch der Beweis zu

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* Diese Fußnotenziffer fehlt im Originalausdruck des Bandes

 


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