- 96 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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erbringen, daß dieser Mangel tatsächlich von der Anwendung der Zwölftontechnik herrührt und nicht von anderswo, bzw. der entsprechende Gegenbeweis zu erbringen. Da man annehmen muß, daß Adorno keine zwölftontechnische Einzelanalyse der betreffenden Takte erstellt hat, die im einzelnen zeigen könnte, daß mit der gegebenen Reihe und bei Einhaltung aller Zwölftonregeln die kompositorische Realisierung der mutmaßlichen musikalischen Idee jener beiden Takte notwendig nur harmonisch schwache Fortschreitungen entstünden, müssen die Gründe und Vorstellungen rekonstruiert werden, die Adorno bewogen haben, dieser konkreten Zwölftonharmonik die "Zufälligkeit des bloßen sich so Fügens" zu unterstellen.


Es ist einigermaßen plausibel, daß eine ideale Gestaltung der Horizontale und Vertikale zugleich - also von Melodik bzw. Kontrapunktik zum einen und Harmonik zum anderen - mittels der Zwölftontechnik, die beide Dimensionen von ein und derselben Gesetzmäßigkeit, nämlich der Reihe, ableiten will, nur beschränkt möglich ist; freilich, "wie" stark diese Einschränkungen der Freiheitsgrade des Gestaltens tatsächlich sind, ist in abstracto nicht angebbar. Weder ist ausgemacht, ob diese Einschränkungen restiktiver sind als die harmonischen Regeln und Gepflogenheiten traditionellen melodisch-harmonischen Komponierens, etwa unter der Nebenbedingung gewisser kanonischer Stimmführungsabsichten, noch ob sie - wie Adorno ja unterstellt - so einschneidend sind, daß sie musikalische Ideen, die beispielsweise in der Zeit freiatonalen Komponierens sich bildeten, nicht mehr im Rahmen der Einhaltung der zwölftontechnischen Regeln zu realisieren erlauben. Der Grad der jeweiligen Einschränkungen hängt nicht nur von der spezifischen Reihe ab, sondern auch der spezifischen Art der konkreten Anwendung der Reihentechnik. Schönberg selbst - dies nebenbei bemerkt - betont ausdrücklich, daß es sich dabei um eine "unbegrenzte Fülle von Möglichkeiten" handelt. 43) Im wesentlichen lassen sich jedoch dabei idealtypisch zwei Extremformen unterscheiden: Auf der einen Seite jene Form, daß die Akkorde - die Vertikale - jeweils aus zusammenhängenden Reihenausschnitten bestehen und stets sämtliche Reihentöne so allein auf Akkorde verteilt werden (als Beispiel etwa der Typus, den Schönberg zu Beginn des Klavierstückes op. 33 a verwendet); auf der anderen jene, bei der Reihen lediglich in der Horizontalen verwendet werden, d.h. pro realer horizontaler Stimme eine Reihe. Ist in der einen Form vorwiegend die Gestaltung der Horizontalen eingeengt, während sie in der Vertikalen das Adornosche Ideal der komplementären Harmonik erfüllt, so fällt in der anderen zwar die Melodik mit der Reihe zusammen, was in vielen Fällen eine ideale Gestaltung der Horizontalen erlaubt, jedoch bleibt die Vertikale mehr oder minder willkürlich. Neben diesen Extremformen zwölftontechnischer Gestaltung existieren dann die Mischformen, bei denen innerhalb eines Reihenablaufes ein Teil der Reihe für eine horizontale Stimme verwendet wird, während ein anderer einen Akkord bzw. einen Akkordteil bildet. Eben diesen Mischtypus verwendet Adorno modellhaft in seiner Argumentation: "komplementärharmonisch". Zu ergänzen wäre: Harmonisch befriedigend gedachte Stellen sind die Ausnahme. Sie sind es notwendig. Denn das Kompositionsprinzip des `Zusammenklappens' der Reihe befiehlt, daß jeder Ton sich als Reihenton sowohl horizontal wie vertikal ausweise. Das macht das Komplementärverhältnis zwischen den Klängen zum seltenen Glücksfall." 44)


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