- 97 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Adorno trifft in diesem Zitat, wenn man es wörtlich nimmt, eine quantitative (statistische) Aussage über bestimmte, einer Kompositionstechnik immanente Probleme, indem er ein modellhaftes technisches Problem, von dem er annimmt, daß es jene konkreten Probleme beim Komponieren mit dieser Technik simuliere, 45) formuliert: Nämlich einerseits Reihen so zu erfinden und sie auf die Stimmen von Kompositionen so zu verteilen, daß das Ergebnis kritischer Überprüfung, insbesondere, was die Harmonik betrifft, vor dem Ideal freiatonalen Komponierens besteht. Dieses Problem zeitigt, je nach der Gestalt der Reihe und ihrer spezifischen Anwendungsformen, aber auch je nach kompositorisch-kombinatorischem Geschick bzw. entsprechender Übung mehr oder minder gute Lösungen, über deren quantitative Verteilung seine Aussage trifft: Komplementärharmonische Lösungen seien seltene Glücksfälle, umgekehrt mißlungene Fälle die Regel. Willkürliche Auswahl aus zwölftontechnischen Werken fördere fast immer Mißliches zutage, oder, wie die Formulierung lautet: "Man braucht nur beliebige Zusammenklänge oder gar harmonische Folgen ..."


Nun sind derlei quantitative Aussagen, und seien es nur Tendenzaussagen, wenn sie nicht aufgrund empirischer Prüfung gewonnen wurden - und daß sie dies im Falle Adornos wären, ist höchst unwahrscheinlich -, eher Vermutungen: Daß die Einschränkung an Gestaltungsfreiheit durch die Zwölftontechnik tatsächlich doch sehr viel geringer ist, als gemeinhin angenommen wird, konnte beispielsweise Christian Möllers zeigen, wenn er den Beginn des vierten Satzes von Schönbergs Drittem Streichquartett nochmals nachkomponierte, und zwar unter Verwendung der Reihe von Schönbergs Bläserquintett und ein weiteres Mal mit der des hier in Frage stehenden Vierten Quartetts, wobei keine Reihengesetzmäßigkeit mehr als Schönberg selbst sich zugestand verletzt werden mußte und dennoch von der ursprünglichen musikalischen Gestalt des Dritten Quartetts kaum abgewichen zu werden brauchte. 46) (Priorität hatte bei Möllers die Stimme der 1. Geige und die diastematischen Umrisse der übrigen Stimmen, minimale Abweichungen ergaben sich vor allem in der Vertikalen; das Möllerssche Experiment ist auch denkbar mit der Priorität auf strikter Erhaltung der Vertikalen.)


Wenn Adorno die prinzipielle Lösbarkeit der Problematik zwölftontechnischen Komponierens schwieriger einschätzt, als sie vermutlich jeweils tatsächlich ist, so kann dies auf zwei Arten erklärt werden. Zum einen: Adorno will nur bestätigt finden, was er von vornherein glaubt - auf Grund der philosophischen Position der "Dialektik der Aufklärung" wäre es ja eine Bestätigung der Theorie, wenn die Verdinglichung, die die Zwölftontechnik darstellt, sogar kompositionstechnisch benannt werden kann: Eben die Unmöglichkeit, genügend ästhetisch befriedigende Kompositionen herstellen zu können bzw. wenn doch, so nur unter äußersten Anstrengungen. Die andere Erklärung: In der Einschätzung schlagen sich jene Erfahrungen nieder, die Adorno selbst beim kompositorischen Umgang mit der Technik machte. Dies wäre allerdings zu erläutern. In der Tat ist ein Großteil der Probleme des zwölftontechnischen Komponierens letztlich mathematisch-kombinatorischer Art 47), zu der ein Komponist - je nach seiner psychologischen Anlage - mehr oder minder begabt ist. Es ist anzunehmen, daß Schönberg - hierin Bach vergleichbar - in diesem speziellen


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